Zeitschriftenartikel

Buddha ist mehr als nur ein Sozialarbeiter

Zur Debatte um den ‚engagierten Buddhismus'

 

Vorwürfe wie: „Ihr egoistischen Meditierer denkt nur an euch, und wie es um den Rest der Welt steht, ist euch völlig gleichgültig!" oder „Ihr naiven Weltverbesserer begreift einfach nicht, dass es nur darauf ankommt, loszulassen!" werden nicht selten in verschiedenen buddhistischen ‚Lagern' laut - alle meinen, die Lehren des Buddha richtig zu verstehen und konsequent zu verfolgen. Was nun? Sind Buddhisten pro oder contra sozial-politisches Engagement? Sie sind beides. Es gilt zwischen Weltflucht und Weltverbesserungssucht eine goldene Mitte zu finden.

Was bedeutet das Wort Buddha? Tatsächlich handelt es sich nicht um den Eigennamen eines weltweit gerühmten indischen Weisen, sondern um einen Ehrentitel. Der Buddha ist der ‚Erwachte', er ist jemand, der den Schleier des Daseinstraumes zerrissen hat. Ein Buddha ist nicht nur ein Mensch, der sich durch außergewöhnliche Einsicht und Weitsicht sowie universelles Mitgefühl und Einfühlungsvermögen auszeichnet, sondern vor allem ein Mensch, der eine ganz andere Dimension der Wirklichkeit entdeckt und ungezählten Schülerinnen und Schülern den Weg dorthin gewiesen hat.

Betrachten wir einmal unsere Träume - da gibt es klare und wirre Szenen, kurz aufblitzende und bleiern träge, beängstigende und beglückende. Wir erwachen regelmäßig aus ihnen, um danach entweder „schade" oder „Gott sei Dank" zu sagen. Das Merkwürdige dabei ist, dass wir von unseren Traumbildern, seien sie anziehend oder abstoßend, beeindruckt und von ihrem Realitätsgehalt völlig überzeugt sind. Erst nach dem Klingeln des Weckers geht uns schlagartig und mit klarer Gewissheit auf, dass das ‚nur' Produkte unserer Phantasie waren und das ‚Eigentliche' sich jetzt, im Wachzustand, abspielt.

So weit so gut! Aber was hat das mit dem Buddha zu tun? Sehr viel, denn der Buddha behauptet, dass es sich mit unserem ‚Leben' im Kern nicht sehr viel anders verhält als mit dem nächtlichen Traum. Das Leben ist nicht das, als was es erscheint, nicht das Reale, das Verlässliche und Wahre. Auch wenn es uns nicht so vorkommt, wir stecken von unserer Geburt an mitten in einem undurchschaubaren Gewoge von illusionären Situationen und Geschehnissen. Nur kennen wir zu dieser Flut täuschender Bilder und Abläufe keine Alternative - sie sind unsere einzige Lebenswirklichkeit, und wir fallen auf sie fast zwangsläufig herein. Aus diesem Lebenstraum sind wir eben noch nie erwacht, ja wir wissen nicht einmal, dass es ein befreiendes Erwachen aus dieser Existenz als überaus gefährdete und ahnungslose Nachtwandler gibt.

Weil wir alles um uns herum für bare Münze nehmen, leiden wir unter unseren Erlebnissen oder erfreuen uns an ihnen, je nach dem. In jedem Fall nehmen wir sie ernst und reagieren auf sie mit Zuneigung oder Widerwillen. Wir wollen sie festhalten oder loswerden. Als Traumakteure spinnen wir so unsere Traumgeschichten immer weiter fort. Ohne Ende.

Der Buddha hat nach eigenem Bekunden dieses nahezu perfekte Gaukelspiel durchschaut und seinen Zeitgenossen gezeigt, wie sie ebenfalls aus dem Lebensirrgarten herausfinden können. Lässt man sich - wenn auch nur probeweise - auf seine Entdeckung ein, ist das Selbstverständlichste mit einem Mal nicht länger selbstverständlich. Wahrheiten, die bis jetzt als offenkundig und verlässlich galten, sind plötzlich fragwürdig, ja sogar hinfällig geworden. Vor allem die: Ich existiere in einer objektiv vorhandenen, materiellen Welt. Manches passt mir dabei, anderes geht mir völlig gegen den Strich. In jedem Fall gebe ich mir Mühe, das Negative aus dem Weg zu räumen und das Wertvolle und Schöne zu schaffen oder zu erhalten.

Was wir gewöhnlich ‚Welt' nennen, ist für den Buddha kein objektiver Tatbestand ‚an sich', sondern die Spiegelung geistig-seelischer Kräfte. So wie auch im nächtlichen Traum weder Berge oder Bäume, Häuser oder Autos noch Menschen ‚wirklich' vorhanden, sondern Bild gewordene psychische Energie sind. Mit anderen Worten: Mögen und Nichtmögen, Habenwollen und Nicht-Habenwollen, Verlangen und Abwehr sind die eigentlichen Schöpfer der ‚Welt' - einschließlich unserer selbst. ‚Gier' und ‚Hass' kreieren alle Daseinserscheinungen und spinnen das Leben weiter. Endlos, mit allen seinen Höhen und Tiefen. Ohne dass sich unsere Augen je für das Tatsächliche öffnen können. Es sei denn, dass der Weckruf eines Buddha an unser Ohr kommt. Vielleicht erst leise und undeutlich, dann immer klarer und unmissverständlicher, bis er uns schließlich endgültig aus dem Schlaf reißt.

Wenn dem so ist, was heißt das für unser Thema - soziales Engagement, Gestaltung der Welt, Verbesserung meiner Lebenssituation und die der anderen, Hilfe für Menschen in Not usw? Vom höchsten Standpunkt aus betrachtet, müsste die Empfehlung lauten: Nein, es geht nicht darum, an Traumbildern etwas zu ändern und sie schöner und angenehmer zu machen. Denn sie sind und bleiben Produkte der Einbildung, selbst wenn sie uns mitreißen und uns vorübergehend in den siebten Himmel führen. Aufwachen ist die Devise. Mit anderen Worten, die Arbeit an menschenwürdigeren Lebens- und Arbeitsbedingungen lohnt sich - letztendlich - nicht. Der Einsatz bleibt vergeblich, denn eine perfekte Welt kann und wird es nie geben. Selbst wenn es gelänge, paradiesische Zustände zu schaffen - was der Buddha übrigens durchaus für möglich hält -, wäre damit unter dem Strich nichts Entscheidendes gewonnen. Warum? Wegen ihrer Unbeständigkeit. Da alle Dinge ohne Ausnahme vergänglich und wandelbar sind, würden selbst die besten Lebensbedingungen zwangsläufig wieder verloren gehen und sich über kurz oder lang sogar in ihr Gegenteil verkehren. Wozu wohnlichere und modernere Häuser bauen, die doch wieder zu Staub zerfallen? Warum unter großen Mühen Frieden stiften, dem der nächste Krieg sicher folgen wird? Weshalb Armut und Unterdrückung bekämpfen, wenn sie anderswo doch bald wieder von neuem ihr unmenschliches Gesicht zeigen?

Klingen die letzen Sätze unmenschlich? Ja, und möglicherweise regt sich schon starker Widerstand in uns, sie überhaupt als buddhistisch in Betracht zu ziehen, geschweige ihnen sofort und vorbehaltlos zuzustimmen. Aber denken wir daran, dass wir - um in unserer Analogie zu bleiben - Träumende sind, die nur ihre lieb gewonnenen Wahngebilde kennen, auf sie ihre Erwartungen setzen und alle Ängste wie Hoffnungen mit ihnen verbinden. Nachdrücklich betont der Buddha, dass unser Lebenstraum einem überaus verworrenen und fest geknüpften Gespinst gleicht. Leider lässt sich dieses Knäuel nicht wie der Gordische Knoten mit einem einzigen gezielten Schwertschlag lösen. Wir müssen erst einmal die verschiedenen Fäden auseinander halten und in die Hände bekommen, um sie anschließend geduldig und mit viel Geschick zu entwirren.

Der erste Schritt dahin ist, mit Hilfe des Buddha den Traum als Tatsache zur Kenntnis zu nehmen. Das beendet ihn noch lange nicht, doch das gibt unserem weiteren Vorgehen Ziel und Richtung. Als nächstes geht es darum, einen möglichen Alptraum in einen schönen Traum zu verwandeln. Wir können schreckliche und angstvolle Szenen in erfreuliche und angenehme Bilder verwandeln. Dunkelheit wird dann nach und nach weichen, um den Farben und dem Licht Platz zu machen. Wo Verworrenheit ist, wird Klarheit einziehen. Dann, und nur dann ist Erwachen überhaupt möglich.

Was bedeutet das? Zunächst, dass wir sicher noch für lange Zeit der Welt der tausend Dinge verhaftet bleiben. Wir wollen leben, und wollen, dass es uns gut geht. Die Empfehlungen des Buddha dazu sind einfach: Unser Denken, Reden und Handeln muss dementsprechend sein. Wenn ich Feindseligkeit aufgebe, Ärger loslasse, Impulsen von Aggression, Widerwille, Hass und Abneigung nicht folge, werden sie mir über kurz oder lang selbst nicht mehr begegnen und mich nicht mehr treffen. Wenn ich Solidarität übe, wenn ich freundlicher und wohlwollender, mitempfindender und rücksichtsvoller werde, gebe ich dem Leben mehr Glanz und Schönheit - dem der anderen und meinem eigenen. Wie man in den Wald hineinruft, schallt es zurück. Wenn das eigene Ego weniger wichtig wird und die Interessen des anderen an Bedeutung gewinnen, bin ich auf dem richtigen Weg. In diesem Traum - in diesem Leben - kann es mir nur besser gehen, wenn es allen besser geht. Mein Glück ist abhängig vom Glück anderer und ihres von meinem.

Ethisches Verhalten trägt entscheidend zu einem menschlicheren und glücklicheren Leben bei, auf der persönlichen wie auf der gemeinschaftlichen Ebene, und zweifellos hat ein konfliktfreies Leben einen hohen Eigenwert. Aber der entscheidende Punkt ist der ‚spirituelle Zugewinn', der noch daraus erwächst. Äußere Harmonie und die dazu gehörende Haltung des Wohlwollens sind eine unentbehrliche und kraftvolle Nahrung für geistiges Wachstum. Wir brauchen sie, um den eigenen Geist stiller und klarer und damit fähiger zu machen, die Realität umfassend und ungeschminkt zu sehen. Und nur auf diese Weise werden wir ganz frei und können alle Träume hinter uns lassen, die bedrohlichen genauso wie die verlockenden.

Unter diesen Vorzeichen haben soziales und politisches Engagement auch für Buddhistinnen und Buddhisten ihren Wert. Dann wird man ihre Notwendigkeit nicht unter- und ihre Reichweite nicht überschätzen. Derartige Aktivitäten basieren dann nicht auf einer blinden Weltverbesserungssucht und verbinden sich nicht mit der irrigen Hoffnung auf ein Leben völlig ohne Macken und Mängel. Denn das kann es per se nie geben, und nicht einmal gelegentliche ‚Goldene Zeiten' in der wechselvollen Geschichte der Menschheit waren bekanntlich von Dauer. Wo restlos alles dem Entstehen und Vergehen unterliegt, haben selbst die heroischsten und uneigennützigsten Taten nur eine begrenzte Geltung. Sie machen Träume lichter und freundlicher, aber beenden sie nicht.

In diesem Zusammenhang werden manche Stolpersteine sichtbar, die auch Buddhistinnen und Buddhisten gelegentlich im Wege liegen. Zum Beispiel: Helfen wollen und können ist das eine, helfen ‚müssen' das andere. Wo das Helfersyndrom das eigentliche Motiv ist, ist niemandem gedient, und gesellschaftliches Engagement als bewusste oder unbewusste Egobestätigung kann nie wirklich buddhistisch sein. Und nach wie vor gilt, ich kann nur das geben, was ich selbst besitze. Ich bin anderen nur dann eine Stütze, soweit ich selbst stabil bin. Was ich nicht auf der praktischen oder der spirituellen Ebene verwirklicht habe, kann ich nicht weitergeben. Zudem stimmt es nachdenklich, wenn uns zu sehr die ‚Fernstenliebe' anstelle der ‚Nächstenliebe' umtreibt. Es wäre fatal, würden wir aus lauter Interesse an dem Wohlergehen der Menschen am anderen Ende des Erdballs übersehen, was vor der Haustür los ist. Was im Nahen Osten geschieht oder auf dem Balkan oder am Horn von Afrika, ist von Bedeutung, aber weit mehr noch, wie es in der eigenen Beziehung aussieht, dass es Ärger mit dem Nachbarn gibt und warum die Reibereien am Arbeitsplatz kein Ende nehmen.

Was heißt das jetzt für den Einzelnen ganz konkret? Soll ich nun einem gemeinnützigen Verein beitreten und mit großer Hingabe „zum Wohle aller Wesen" ackern oder doch lieber still und „nur für mich" auf dem Meditationskissen sitzen? Oder beides?

Eine generelle Antwort hat der Buddha nicht gegeben, aber eine wertvolle Hilfe für die individuelle Entscheidung: Wenn bei mir bei bestimmten Aktivitäten ‚Gier, Hass und Verblendung' zunehmen, dann soll ich sie schleunigst lassen. Wenn allerdings ‚Gier, Hass und Verblendung' dabei schwächer werden, kann ich getrost weitermachen. Also: Für jemanden, der zeitlebens nur an das eigene Fortkommen gedacht hat und eigennützig und rücksichtslos war, wäre es ein enormer Fortschritt, endlich einmal für andere die Ärmel hochzukrempeln. Wer dagegen schon immer für alle da war und sich gerne um jeden gekümmert hat, für die oder den könnte es an der Zeit sein, von all dem mehr Abstand zu nehmen und sich auf das wichtigste Experiment überhaupt einzulassen: die Arbeit mit und an dem eigenen Geist. Wenn wir damit ‚erfolgreich' sind, stellen wir vielleicht am Ende sogar fest, dass es ‚draußen' gar nichts mehr zu tun gibt.

Und die Moral von der Geschichte? Der Buddha ist mehr als ein überragender Sozialarbeiter, er ist ein spirituelles Genie, dessen Lehren wir in ihrer Breite wie in ihrer Tiefe würdigen sollten.

 


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