Zeitschriftenartikel

Die hellsichtige Nachtigall

Alfred Weil

Ein altes indisches Märchen erzählt von einem Mann, der Blumen über alles liebte und dem es Rosen besonders angetan hatten. Er hatte sich deshalb einen großen Garten angelegt, und in ihm wuchsen die prächtigsten Sträucher. Mit Hingabe kümmerte er sich unablässig um ihre Pflege und verbrachte einen Großteil seiner Zeit in seinem kleinen Paradies: Seine Mühe wurde auch aufs Beste belohnt, denn viele Monate des Jahres konnte er sich an den schönsten Blüten erfreuen.

Eines Tages machte er wieder seinen Rundgang. Hier blieb er stehen, um staunend zu schauen, da neigte er sich interessiert einer Pflanze zu und dort sog er ihren betörenden Duft ein. Wie um sein Glück vollkommen zu machen, hörte er mit einem Mal in seiner Nähe das zarte Schlagen einer Nachtigall. Vorsichtig näherte er sich der Stelle, von wo der bezaubernde Klang zu ihm drang. Da hockte der braune Vogel und ließ die schönsten Melodien erklingen. Doch sogleich durchfuhr den Mann ein heftiger Schreck. Saß doch das kleine Tier ausgerechnet auf seinen Lieblingsrosenstrauch und hatte sich über einige Knospen hergemacht. Von seinem spitzen Schnabel waren sie schon arg zugerichtet. Überall verstreut lagen Blütenblätter.

„Eine Katastrophe!“, dachte der Mann. „Bald wird es keine heile Blüte mehr geben, meine ganze Freude für immer dahin sein. Ich muss etwas unternehmen, sofort.“ Schnell war sein Entschluss gefasst. An einer freien Stelle ganz in der Nähe breitete der Mann ein Netz über den Boden und streute eine Handvoll Körner aus. Jetzt musste er nur warten. Und tatsächlich, bald darauf erschien die Nachtigall, um sich an dem Futter zu laben und neue Kraft für ihren Gesang zu schöpfen. Kaum hatte sie sich arglos und voller Vorfreude auf dem Netz nieder gelassen, war sie auch schon gefangen. Verzweifelt versuchte sie, sich aus der tödlichen Umstrickung zu befreien, doch alles Flattern und Hüpfen blieb vergeblich. Im Handumdrehen war der Besitzer des Gartens zur Stelle und drohte mit erzürnter Miene. „Da habe ich dich nun, du garstiger Unglücksvogel. Nichts kann dir mehr helfen; ich werde dich auf der Stelle umbringen.“

In ihrer Todesangst blieb der Nachtigall nur, an die besseren Seiten des Zornigen zu appellieren und ihn inständig um ihr Leben zu bitten. „Willst du mich tatsächlich ein paar zerzauster Blüten wegen töten? Mich jeder künftigen Freude, ja des Lebens berauben, nur weil ich dir ein einziges Mal Ärger bereitet habe?“ Bei diesen Worten wurde der Rosenfreund nachdenklich, seine Aufregung war schon halb verflogen, und nach einigem Zögern erwiderte er: „Du hast freilich Recht. Dich zu töten wäre ohne jedes Maß. Wenn du mir versprichst, von nun an alle Blüten zu verschonen, will ich dir die Freiheit wiedergeben.“

So wurden beide schließlich einig und die Nachtigall aus dem Netz befreit. Erleichtert wollte sie eilends davonfliegen, hielt aber noch einen Moment inne. „Weil du dich mir gegenüber als nachsichtig und freundlich erwiesen hast, will ich dir einen Gefallen tun. Du sollst wissen: In deinem Garten liegt ein Schatz vergraben. Dort unter dem Orangenbaum wirst du ihn finden.“

Überrascht und ungläubig holte der Mann flugs einen Spaten und begann zu graben. Schon bald stieß er auf eine halb verfallene metallene Schatulle, die bis zum Rand mit Goldstücken gefüllt war. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich der Mann von dieser Überraschung erholt hatte und wieder sprechen konnte: „Sag‘ mir, liebe Nachtigall: Das Netz auf der Erde, mit dem ich dich fing und das dein Leben bedrohte, das hast du nicht gesehen. Von dem unter der Erde verborgenen Schatz aber wusstest du. Wie ist das möglich?“ – „Das ist ganz einfach“, erwiderte der Vogel. „Nach den ausgestreuten, wohlschmeckenden Samen hatte ich starkes Verlangen; sie haben meine Sinne gefesselt. Deshalb hatte ich keinen Blick für die drohende Gefahr durch die tödlichen Maschen. Mit dem Gold jedoch kann ich nichts anfangen, es ist ohne Bedeutung für mich, und deshalb wurden meine Augen von ihm nicht getrübt.“

Liebe macht blind, sagt der Volksmund. Er drückt damit eine Wahrheit aus, die indessen viel tiefer reicht, als es zunächst den Anschein hat. Wer verliebt ist, sieht in dem oder der Auserwählten etwas ganz Besonderes und Unvergleichbares. Diesem Wesen zu begegnen und ihm nahe zu sein, scheint der Himmel auf Erden. Es „zu besitzen“ größtes Glück. In dem umschwärmten Wesen finden sich alle guten Eigenschaften aufs Glücklichste vereint.

Ja, Liebe macht blind, doch die allgemeine Erfahrung zeigt, dass diese Trübung des Blickes nicht allzu lange anhält. Nach und nach kommt die Wirklichkeit ans Licht. Mein Gegenüber ist eben doch kein reiner Engel, sondern ein Mensch mit seinen kleineren und größeren Mängeln. Er hatte sie von Anfang an, aber ich habe sie in meiner Verblendung nicht gesehen. Nicht sehen wollen, ja, gar nicht sehen können. Es war meine starke Hinneigung zu diesem Menschen, die mich das weniger Perfekte nicht hat erkennen lassen.

Blindheit, Befangenheit, Verblendung sind auch das Thema in der Geschichte von der Rose und der Nachtigall. Und wir können aus ihr manches über die menschliche Psyche und ihr Funktionieren erfahren. Sie macht uns zugleich mit einigen beachtenswerten Erkenntnissen der buddhistischen Psychologie bekannt.

Beide Akteure des Märchens sind von ihren Wünschen, ihren inneren Anliegen und Absichten gelenkt. Da ist der Besitzer des Blumengartens, dessen Herz an seinen Rosen hängt. Über die Jahre hinweg hat er ihnen seine Aufmerksamkeit gewidmet und seine Freude aus ihnen bezogen. Ohne dass er es ihm auffiel, hat das mit der Zeit sein Leben geprägt und ihm eine ganz eigene Ausrichtung gegeben. Die täglichen Ereignisse im Dorf nimmt er kaum noch zur Kenntnis, politische, kulturelle oder religiöse Belange sind für ihn ohne Bedeutung. Rosen sind es, die seine Gedanken formen, seine Gefühlswelt und sein Tun bestimmen.

Wo Begehren ist, verengt sich unser Blick. Es verändert unser Erleben – besonders, wenn es stark ist und wir ihm gewohnheitsmäßig folgen. Wir sehen nicht mehr das Ganze der uns umgebenden Welt, sondern nur kleine Ausschnitte von ihr. Interesse an einer Sache rückt sie in den Mittelpunkt der Wahrnehmung, Desinteresse verbannt sie aus dem Gesichtsfeld. Etwas haben wollen macht den betreffenden Gegenstand wertvoll, lässt ihn in unseren Augen leuchten. Wir glauben, dass die Dinge die von uns geschätzten Eigenschaften auch tatsächlich besitzen.

Dass das aber so nicht der Fall ist, illustriert unsere Geschichte. Der Blumenbegeisterte ist völlig der Pracht seiner Rosen zugetan. Daher erlebt er deren Schönheit und will sie bewahren. Für die Nachtigall bedeuten sie etwas völlig anderes. Für den Vogel ist der Strauch eine willkommene Gelegenheit, sich auf seinen Zweigen niederzulassen. Die Blüten sind nichts anderes als ein Versteck für kleine Insekten und Raupen. Diese gilt es aufzuspüren und zu vertilgen, auch wenn das Gewächs dabei Schaden nimmt.

Eben diese Macht der eigenen Interessen und Anliegen verengt unseren Horizont. Das Verlangen will befriedigt, das Gewünschte genossen werden, alles andere tritt zurück. Und damit auch das Verständnis für die Bedürfnisse und Wünsche der Mitwesen. Das Gemüt des Rosenliebhabers ist auf seine Pflanzen gerichtet, und aus demselben Grund kann er die Nachtigall nicht als ein ebenfalls bedürftiges und Wohl suchendes Wesen sehen. Ihr Lied hört er gern, aber ihren Hunger nimmt er wahr. Der Vogel bringt so nur einen Missklang in sein Leben.

Offensichtliche oder unterschwellige Interessen färben nicht nur unsere Sicht der Dinge. Sie haben auch maßgeblichen Einfluss auf unsere Reaktionen und Verhaltensweisen. Emotionen verhindern schnell eine weise und mitfühlende Beurteilung der Situation und verführen zu unguten Absichten und unvorteilhaften Handlungen. Ärger ist es, der den erbosten Gartenbesitzer zu dem Entschluss bringt, den kleinen Vogel zu töten. Ein eigentlich unbedeutender Vorgang wird zum Anlass für eine folgenschwere Tat. Der kurze genussvolle Anblick einer schönen Blume wird wichtiger als das Leben eines Wesens.

Für die Nachtigall gilt umgekehrt natürlich das gleiche. Die Rosenblüten sind für sie Nahrungsspender, den Missmut des Mannes kann sie nicht nachvollziehen. Dafür werden ihr die ausgestreuten Samen fast zum Verhängnis. Weil ihre durch Verlangen gelenkte Aufmerksamkeit ganz auf das verlockende Futter gerichtet ist, entgeht ihr, was sich sonst noch um sie herum tut. Für das Netz und die von ihm ausgehende Gefahr ist sie blind. Die momentane Aussicht auf ein üppiges Mahl lässt sie ihre dauerhafte Sicherheit vernachlässigen. Die Aussicht auf gegenwärtiges Wohl lässt zukünftiges in den Hintergrund treten. Andererseits ist der Vogel hellsichtig. Wo sein Auge nicht durch banale Wünsche auf Vordergründiges fixiert ist, hat er im wahrsten Sinne des Wortes Durchblick. Verborgenes tut sich auf. Er erfasst mehr von der Wirklichkeit, sein Horizont weitet sich. Er entdeckt Gold unter der Erde.

In ungezählten Reden hat der Buddha die in unserer Geschichte veranschaulichten geistigen Gesetzmäßigkeiten beschrieben. Im Kern geht es darum, dass Emotionen unsere Sicht der Realität beeinflussen. Starke leidenschaftliche Affekte schließen einen klaren Blick gänzlich aus. Aber selbst ein leiser Wunsch oder eine kaum merkliche Aversion überziehen die Dinge mit etwas Glanz beziehungsweise einem leichten Schatten. Habenwollen macht Dinge bedeutsam und lässt sie in unserem Geist leuchtkräftig erscheinen. Es verleitet uns zuzugreifen, unter Umständen verführt es uns sogar zu krummen Wegen, um an den erhofften Genuss zu kommen.

In einer materialistischen und konsumorientierten Welt ist die Gefahr der Vordergründigkeit und Oberflächlichkeit besonders groß. Was die Körpersinne unmittelbar zeigen und anpreisen, hat Gewicht. Sie bestimmen den Kurs unseres Lebens. Was über sie hinausweist, verliert zunehmend an Wert. So ist den meisten Menschen längst alles Jenseitige fremd und unrealistisch gegangen. Das laute und grelle „Hier“ überdeckt das feinere und viel wichtigere „Dort“. Man ist leicht geneigt, mit etwas Gold überzogenen Staub dem mit etwas Staub überzogenen Gold vorzuziehen.


Wir verabschieden uns mit dem Gruß: Mögen alle Wesen glücklich sein und Frieden finden.

Nach einem Vortrag in NDR Info: Aus der Sendereihe Religionsgemeinschaften - Buddhisten, am Sonntag, 15.07.2018, 7.15 Uhr bis 7.30 Uhr – gelesen von Kornelia Paltins


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