Buchbeitr?ge - Auf stillem Pfad

Buddhistische Romantik

Alfred Weil

Das Wort Romantik hat für viele einen guten Klang. Nicht nur bei Verliebten, die sich bei Vollmond Hände haltend tief in die Augen sehen. Auch jenseits aller sonstigen Klischees. Diese emotionale Nähe sitzt tiefer und ihr Einfluss reicht weiter als meist angenommen. Die geistige Haltung, die gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihre große Zeit hatte, wirkt bis heute nach. In vielen Bereichen und weitgehend unbemerkt.
Wir können heute kaum noch nachvollziehen, welchen intellektuellen, emotionalen und gesellschaftlichen Wirbel eine Handvoll brillanter Köpfe damals verursachte. Nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Namen wie Hölderlin und Novalis, Schelling, Schlegel und Schleiermacher standen für den Aufbruch in eine neue Zeit. Im Gegensatz zu der damals vorherrschenden Rationalität der Aufklärung waren für sie die Seiten des menschlichen Daseins jenseits der bloßen Vernunft maßgebend. Subjektivität und Spontaneität, Gefühl und Naturnähe waren gefragt. Das Geheimnisvolle, Sehnsuchtsvolle und Unerklärliche faszinierte. Die Rückbesinnung auf das Mittelalter und die großen Mythen der Menschheit waren für sie wichtig. Das Leben sollte eine selbstbestimmte und einzigartige Ausrichtung erhalten, es sollte individuell und frei gestaltet, ja wie ein Roman entworfen werden. Abseits starrer gesellschaftlicher Regeln und Normen.
Die mit Enthusiasmus propagierten und zum Teil vorgelebten Ideen der Romantiker erreichten eine beachtliche Öffentlichkeit. Sie gaben der bildenden Kunst, der Musik und der Dichtung ebenso nachhaltige Anstöße wie der Philosophie und der Theologie. Nicht zuletzt galt es, der religiösen Erfahrung das ihr eigene Gewicht zuzugestehen und zu kultivieren.
Es war schwierig, sich dieser ebenso schwungvollen wie inspirierenden Bewegung (ganz) zu entziehen. Doch so schnell und kraftvoll sich diese geistige Welle auftürmte, verebbte sie wieder. Die Gruppe der Romantiker, in sich nie einheitlich und geschlossen, spaltete sich, und ihre Mitglieder zerstreuten sich. Ihre für kurze Zeit so auffällige Präsenz endete. Aber ihre Gedanken und Visionen gingen nicht verloren. Ohne besonderes Zutun wirkten sie eher im Stillen weiter und fanden in den Köpfen und Herzen der Menschen bis heute ein festes Zuhause. Das trifft nicht nur für Deutschland zu, dem Ausgangspunkt und Kernland der Romantik. Ihre Fernwirkungen reichten und reichen bis jenseits des Atlantiks und bis nach Asien.
Warum das für Buddhistinnen und Buddhisten interessant ist? Weil deutliche Spuren dieser geistigen Strömung auch in den Lehren des Buddha (dem Dhamma) zu finden sind. Oder sagen wir richtiger, in der Art und Weise, wie der Buddhadhamma im Westen aufgegriffen und verstanden wird. Mehr noch: Der westliche Buddhismus ist in nicht unerheblichem Umfang von den Vorstellungen der Romantiker geprägt – und damit mehr oder weniger entstellt. Wer zeitgenössische buddhistische Bücher liest, kann nicht immer sicher sein, wirklich Authentisches über die ursprüngliche Lehre Gotama Buddhas zu erfahren. Wer buddhistischen Lehrerinnen und Lehrern seine Aufmerksamkeit schenkt, gleich ob westlichen oder den zeitgenössischen asiatischen, hat keinerlei Gewähr für den Wahrheitsgehalt des Gesagten. Nicht selten begegnet uns eine verkürzte, verzerrte, wenn nicht in wesentlichen Belangen verfälschte Version des Dhamma. Das gilt gerade für einführende und populäre Darstellungen. Dabei spielen nicht unbedingt unlautere Absichten eine Rolle. Neben tatsächlicher Unkenntnis sind mit der eigenen Sozialisation erworbene Sichtweisen und Vorlieben der Grund: eben solche mit einer unerkannten und uneingestandenen romantischen Einfärbung.
Wenn die Romantik Religion als die Beziehung des Individuums zum Universum versteht, sieht das die buddhistische Romantik genauso. Dort wie hier geht es darum, die verlorene Verbundenheit des Einzelnen mit dem Ganzen wiederherzustellen. Der religiös Suchende sehnt sich danach, das Unendliche zu erfahren und wieder in Einklang mit ihm kommen. Die Daseinsproblematik des Menschen ist gelöst, wenn die Heimkehr zum Ursprünglichen, Einheitlichen und Umfassenden gelingt. Selbst nur für kurze Zeit, um immer wieder angestrebt zu werden. Da sich das Universum der romantischen Auffassung zufolge als eine organische Einheit auf ein (unbekanntes) letztes Ziel hin entwickelt, ist es die Aufgabe des Einzelnen, seinen Platz und seine Aufgabe in dieser Entwicklung zu finden. Beide muss er selbst finden, und keine religiöse Institution darf ihn dabei bevormunden, keine Doktrin ihn festlegen.
Vor diesem Hintergrund haben in buddhistischen Kreisen derzeit zwei Dinge an Bedeutung gewonnen. Zum einen eine betonte Naturverbundenheit, die eine harmonische Koexistenz des Menschen mit seinem natürlichen Umfeld verwirklichen will. Kein Wunder also, dass viele moderne Buddhistinnen und Buddhisten den Umweltschutz für sich entdeckt und zu einem wesentlichen Anliegen gemacht haben. Die Rettung des Planeten Erde steht weit oben auf der Tagesordnung.
Ähnliches gilt für das gesellschaftliche Engagement, das auf ein friedliches und solidarisches Zusammenleben zielt. Dementsprechend steht metta, die allumfassende Liebe hoch im Kurs. Die Haltung der Güte und des universellen Wohlwollens, das sich nicht nur auf die Menschen, sondern auf alle Lebewesen bezieht; die die Ich-Du-Gleichheit propagiert und sich im emotionalen Erleben verwirklicht. Sei es in der direkten Begegnung mit den Mitwesen, sei es in Gedanken oder in der Meditation.
Damit wir uns nicht missverstehen. Tatsächlich legte der Buddha, der Erwachte, jedem dringend nahe, die Herzensqualitäten des Wohlwollens, des Mitempfindens oder der Mitfreude zu kultivieren. Ja, sie sollen im Idealfalle grenzenlos sein, niemanden ausschließen und alle trennenden Unterschiede einschmelzen. Genauso lobte der Erwachte das freudvolle und erhabene Einheitserleben in der Meditation, das zeitweise alle weltliche Vielfalt hinter sich lässt und ganz neue Dimensionen der Erfahrung eröffnet.
Aber: Für den Erwachten war das nicht der höchste Ausdruck von Weisheit und schon gar nicht das letzte Ziel der spirituellen Praxis. Individuum und Universum sind nämlich gleichermaßen sich gegenseitig bedingende und daher unvollkommene Erscheinungen. Die Einheitserfahrung in der Meditation wie die Erfahrung von weltlicher Vielfalt im Alltag unterscheiden sich in den entscheidenden Punkten nicht. Beide sind sie unbeständig, wandelbar, vergänglich. Beide sind sie unzulänglich, leidhaft, nicht erfüllend. Beide sind sie ohne Substanz, ohne Eigenexistenz, ohne ein eigentliches Ich. Das gilt für die anfanglose Vergangenheit ebenso wie für die Gegenwart und für alle Zukunft. Die Praxis von metta – der liebenden Güte – ist trotz ihres hohen Anspruches und ihres hohen Ansehens nicht Selbstzweck oder Wert an sich. Sie ist ein markanter Meilenstein auf dem Weg, weil sie hilft, Herz und Geist zu tiefer Ruhe und Harmonie zu führen. Nur dann wird die Wirklichkeit gesehen, wie sie tatsächlich ist, wird die Freiheit von Nirvāna erfahren. Und einzig darum ging es dem Buddha.
Mit der Brille der Romantik will und kann man das nicht sehen. Die für sie charakteristischen geistigen und emotionalen Muster verhindern, den eigentlichen Gehalt des Buddhadhamma zu verstehen und ihn zur Grundlage der Praxis zu machen. Die buddhistischen Lehren beeinflussen den Romantiker nicht in ihrem Sinn, vielmehr verändert der Romantiker die Lehren nach seinen Vorstellungen. Anstatt den Dhamma zu nutzen, um die volle Höhe möglicher Weisheit und Freiheit zu erreichen, wird der Dhamma auf das beschränkte eigene Maß reduziert.
Nicht mehr Nirvana und mit ihm das völlige Aufhören von Leiden und Unzulänglichkeit sind das höchste Gut. Statt die Beendigung des Daseinskreislaufes fest ins Auge zu fassen, geben sich die buddhistischen Romantiker mit dem Wunsch zufrieden, ein Leben der zwischenmenschlichen Harmonie und der Freude im Einklang mit der Natur und den Gesetzen des Daseins zu führen. Das Erleben von Einheit, Ganzheit und Verbundenheit steht in höherem Ansehen als die von Buddha in Aussicht gestellte erlösende Aufhebung von Gefühl und Wahrnehmung. Dem Dhamma geht es um das Ungeborene, Ungewordene, Ungeschaffene, Ungestaltete und nicht um eine kuschelige Nische im Geborenen, Gewordenen, Geschaffenen, Gestalteten. Im Bedingten ist eine heile Situation nicht zu finden.
Sicher kann nicht nur von den „letzten Dingen“ des Dhamma die Rede sein, und gewiss darf sich die buddhistische Praxis nicht nur darauf beziehen. Jeder muss da abgeholt werden, wo er oder sie sich befindet, und jeder muss die für ihn oder sie passenden Antworten erhalten. Die ersten Schritte bei einer Wanderung sind nicht weniger wichtig als die letzten. Aber neben den einzelnen Etappen müssen die Wegstrecke insgesamt und das eigentliche Ziel klar vor Augen stehen. Die buddhistische Romantik versäumt aber genau das. Um im Bild zu bleiben: Ihr geht es im Wesentlichen nicht darum, nach den Gipfeln erhabener Berge Ausschau zu halten und zuversichtlich den beschwerlichen Aufstieg anzugehen, denn sie gibt sich schon mit saftigen Almwiesen und dem wohltuenden Aufenthalt unter blauem Himmel zufrieden. Ihr eigentliches Anliegen ist nicht, die ziellose Daseinswanderung zu beenden, sondern sich im Samsaro heimisch zu machen, so gut es eben geht. Damit werden die Lehren des Buddha ihres befreienden Potenzials beraubt. In extremen Fällen verkommen sie zu einem anspruchslosen, gelegentlich geschickt kommerzialisierten Wohlfühl-Buddhismus.
Vor falschen Herangehensweisen in Bezug auf den Dhamma und den negativen Konsequenzen hat schon der Buddha gewarnt. Mögliche Chancen werden nicht ergriffen, unsachliches Handeln richtet sogar Schaden an. Es ist, so eine Metapher des Erwachten, wie wenn jemand mit eine Schlange ungeschickt umgeht. Aus ihrem Gift kann man ein wertvolles Heilmittel gewinnen, aber man muss dabei richtig vorgehen. Will man sie fangen, darf man sie nicht auf unbesonnene Weise am Schwanz packen. Ehe man sich versieht, wird sie sich nämlich sonst umdrehen und zubeißen. Ein gehöriger Schreck und Schmerzen sind das Mindeste, und im schlimmsten Fall kommt der Unvorsichtige zu Tode. Seine eigentliche Absicht kann er schon gar nicht verwirklichen. Nicht anders geht es dem, der den Dhamma falsch anfasst. Wer dessen wahren Sinn nicht gründlich untersucht, verpasst das Eigentliche und bleibt weiter Leiden und Tod ausgesetzt.

Von diesen Themen handelt das Buch Buddhistische Romantik von Ṭhānissaro Bhikkhu (Geoffrey DeGraff). Es eröffnet einen kritischen Blick auf die Geschichte der Romantik wie auf das Leben und das Wirken ihrer Protagonisten. Detailreich arbeitet der Autor den Einfluss des romantisches Gedankengutes auf das Verständnis von Religion im Allgemeinen und auf das der buddhistischen Lehre und Praxis im Besonderen heraus. Er lässt die frühen Vertreter der Romantik und ihre heutigen buddhistischen Anhänger ausführlich zu Wort kommen. Ihre Thesen konfrontiert er mit den völlig anderen Einsichten des Buddha. Dafür hat der Ehrwürdige Ṭhānissaro eine beachtliche Anzahl von Passagen aus den Lehrreden zusammengetragen und vom Pali-Original ins Amerikanische übersetzt. In zwei hilfreichen „Checklisten“ mit jeweils 20 Eckpunkten fasst er die wichtigsten Unterschiede zwischen buddhistisch-romantischen und buddhistischen Positionen zusammen. Der Kernsatz daraus lautet: „Das Objekt des Dhamma ist nicht die Beziehung der Menschheit zum Universum, sondern das Ende von Leiden und Druck.“
Ṭhānissaro Bhikkhu ist wie kaum ein anderer für diese Aufgabe geeignet. Ihn zeichnen Kenntnisreichtum und bemerkenswerte praktische Erfahrungen aus. Sein Studium der europäischen Geistesgeschichte hat ihn mit den großen Romantikern, mit ihrer Zeit und ihren Umfeld vertraut gemacht. Als langjähriger Mönch des Theravāda, genauer der thailändischen Waldtradition, ist er wiederum in Anschauung und Praxis in dieser noch immer lebendigen und inspirierenden Überlieferung zu Hause. Nicht zuletzt hat sich der Abt des Metta Forest Monastery in San Diego/Kalifornien einen Namen als produktiver Übersetzer der Lehrreden des Buddha gemacht. Das Buch Buddhistische Romantik nimmt einen wichtigen Platz in einer beachtlichen Reihe seiner weiteren Publikationen ein.

Es freut mich, dass der Vorschlag zur Übersetzung dieses Buches aufgegriffen und zügig umgesetzt wurde. Wolfgang Neufing hat die nicht unerhebliche Mühe auf sich genommen, den Text aus dem Amerikanischen zu übersetzen und die zahlreichen Zitate jeweils im deutschen Original ausfindig zu machen. Raimund Beyerlein war gerne bereit, das gesamte Projekt zu betreuen und es in das Programm des Verlages, unter der Rubrik Danabücher (Bücher zur freien Verteilung), aufzunehmen. Gerhard Blos hat den Satz, das Layout und die Endkorrektur übernommen. Ronnie Küttel hat insbesondere die Übersetzungsarbeit unterstützt, sein kontinuierliches Feedback hat den Text deutlich verbessert. Ihnen allen sei herzlich gedankt.

Alfred Weil


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