Buchbeitr?ge - Auf stillem Pfad

Der Fremde - der bist du!

Vom Denken gehen die Dinge aus

Es sind unsere Vorstellungen und Gedanken, die im wahrsten und tiefsten Sinn Wirklichkeit schaffen. Aus ihnen erwachsen unsere Welt- und Leitbilder, die Motive unseres Handelns und letztlich unser Tun selbst. Und: Verhalten schafft (gesellschaftliche) Verhältnisse. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn viele spirituelle Traditionen - und unter ihnen auch die buddhistische - großen Wert auf den Umgang mit den eigenen Gedanken legen. „Vom Denken gehen die Dinge aus", die guten wie die schlimmen, heißt es in einem berühmten Vers des Dhammapadam.
Wo Unwissenheit und Illusion, irrige Vorstellungen oder Vorurteile herrschen, können wir nicht angemessen reagieren, weil die richtigen Voraussetzungen fehlen. Das gilt für die kleinen und gewöhnlichen Dinge des Alltags wie für das Neue und Ungewohnte. Wo uns „Fremdes" beunruhigt, „Fremde" uns verunsichern, dann nur deshalb, weil uns das tiefere Verständnis fehlt. Die Einsicht in die wahren Zusammenhänge wirkt dagegen immer befreiend, beruhigend und konfliktmindernd.

Wir sind alle gleich

Alle Menschen sind gleich. Nein, das ist kein gefühlvoller Appell oder frommer Wunsch angesichts augenscheinlicher Unterschiede. Es verhält sich tatsächlich so, wenn wir die Realität in ihrer spirituellen Dimension betrachten.

Unsere Haut- und Haarfarbe mag verschieden sein, unsere Kleidung, unsere Sprache, unsere Lebensweise, unsere Gewohnheiten und Anschauungen. Doch das ist die Oberfläche. Als empfindende Wesen hingegen sind wir gleich. Wir alle wollen Unglück vermeiden und Glück erleben. Die Suche nach Schutz und Geborgenheit, nach Verständnis und Anerkennung, nach materieller Sicherheit, nach geistiger Orientierung und nach einem friedlichen Zusammenleben verbindet uns. Hier haben wir die gleichen Interessen. Welche Rolle spielen da Unterschiede von Rasse und Herkunft, Kultur und Religion?

Das ist eine Grundeinsicht, doch gehen Buddhisten in dieser Frage noch viel weiter. Für sie ist es ganz selbstverständlich, daß das Leben nicht mit der sogenannten Geburt beginnt und nicht mit dem sogenannten Tod endet. Wir alle leben seit undenkbaren Zeiten, haben schon alle Rollen auf der Bühne der Existenz gespielt. Wir waren Mann und Frau, Bettler und König, arm und reich, glücklich und elend, geliebt und verhaßt, willkommen und verstoßen. Unsere jetziges Leben ist nur eine flüchtige Episode in einem anfanglosen Daseinskreislauf. Was immer uns also begegnet, wir haben es irgendwann schon einmal selbst erlebt, waren einst in derselben Situation. Was uns in der Gegenwart zu trennen scheint - im Blick auf den Lauf der Zeiten wird es bedeutungslos. Wir sind alle gleich.

Tat twam asi - Das bist du!

Für viele Menschen im Westen scheinen einzelne buddhistische Anschauungen unannehmbar. Nicht nur die eben erwähnte von der Fortexistenz und der letztendlichen Gleichheit der Menschen. Gleiches gilt auch für die sogenannte „Karma-Lehre", die das Lebensgefühl vieler Millionen von Asiaten seit Jahrhunderten prägt.

„Was du säst, wirst du ernten", „Wie man sich bettet, so liegt man", „Die Suppe, die man sich einbrockt, muß man auslöffeln." In diesen und anderen Worten kennt man diese Lehre auch bei uns. Nur, daß sie nach buddhistischer Auffassung sehr weitreichend, ja existenzbestimmend ist. Sie besagt: Was immer wir tun, hat unweigerlich entsprechende Folgen für uns. Und umgekehrt: Wir erleben nichts anderes, als irgendwann einmal als Tat von uns selbst ausgegangen ist. Was uns widerfährt - Angenehmes oder Unangenehmes, Schönes oder Unschönes, Vertrautes oder „Fremdes" - alles ist nur zurückkehrendes eigenes Tun. „Tat twam asi", sagen die Inder, „Das bist du!" Das bist du noch einmal, gestalt-gewordene eigene Vergangenheit, gestalt-gewordene eigene Tat.

Mit wem gehen wir demnach um, wenn wir mit „Fremden" umgehen? Wie ich sie behandele, behandele ich letztlich mich selbst. Die tiefsten spirituellen Einsichten der Religionen lehren, daß jede Trennung von ich und du, von mein und dein, von eigen und fremd nur auf einer Illusion beruht. Wie naiv, kurzsichtig und verfehlt ist es dann, das Fremde und den Fremden anders, schlechter zu behandeln als man selbst behandelt werden möchte! Leben ist eine Einheit, das nur als Einheit gedeihen kann.

Die Übung: den richtigen Gedanken Nahrung geben

Wissen ist nur dann fruchtbar, wenn es im entscheidenden Moment präsent ist. Es genügt nicht, irgendwann einmal eine Einsicht zu haben, sie aber dann im hintersten Winkel des Gedächtnisses abzulegen. Spirituelle Wahrheiten müssen unser Denken durchdringen und prägen. Wir müssen unsere richtigen und wertvollen Gedanken zu Gewohnheiten werden lassen, damit sie sich wie automatisch melden, wenn es darauf ankommt.

Der Buddha sagte - und das kann durchaus wörtlich genommen werden - daß wir kaum einem Menschen begegnen, der nicht einst schon einmal unser Vater oder unsere Mutter, unsere Tochter oder unser Sohn gewesen ist. Buddhistinnen und Buddhisten können diese Tatsache leicht zum Gegenstand der Kontemplation und der Meditation machen. In Zeiten der Zurückgezogenheit und Stille führen sie sich diese Einsicht immer wieder vor Augen, bis sie „in Fleisch und Blut" übergegangen ist: „Wir sind unserem Wesen nach nicht verschieden; wir haben die gleichen Anliegen und machen die gleichen Erfahrungen. Alle „Fremden" sind Vertraute, die wir nur aus den Augen verloren haben. Jetzt besteht die Chance, diesen Irrtum zu durchschauen und auszuräumen." Das ist eine Übung, die gut oder weniger gut gelingen wird. Wenn sie uns aber voll und ganz gelingt - wie können wir dann überhaupt jemals wieder einen „Fremden" sehen, geschweige ihn ablehnen oder gar hassen?

Einsichten und Emotionen

Zu „wissen", daß wir alle gleich sind, ist eine Sache; es auch so zu empfinden eine ganz andere. Unsere Einsichten sind nur dann tragfähig und führen zu entsprechendem Handeln, wenn sie eine hinreichende emotionale Basis haben. Von den vielen möglichen Geisteshaltungen oder Gesinnungen hat der Buddha nur vier als wirklich wertvoll erachtet:

  • Güte, die vor Augen hat, daß es da noch andere Menschen gibt, die wie ich empfinden, und denen sie daher mit Wohlwollen begegnet,
  • Mitempfinden, das den anderen in seiner Bedrängnis sieht und deshalb helfen will,
  • Mitfreude, die neidlos teilhaben kann, wenn der andere glücklich ist, und
  • Gelassenheit, die nicht aus subjektiv empfundener Sympathie oder Antipathie, sondern der Notwendigkeit der jeweiligen Situation entsprechend agiert.

Diese Haltungen sind geeignet, Gräben zuzuschütten, Konflikte auszuräumen und Harmonie zu fördern. Sie sind der emotionale Ausdruck der Einsicht in die Ich-Du-Gleichheit.

Die Übung: Freundlichkeit lernen

Nach buddhistischer Erfahrung müssen wir indessen nicht darauf warten, daß positive Geisteshaltungen „vom Himmel fallen". Sie sind erlernbar. Wir können sie uns so aneignen, wie der Geist sich mit neuem Wissen vertraut machen kann. Ein Beispiel:
Wir beginnen, indem wir unsere Achtsamkeit auf den Atem richten. Wir beobachten nur, wie er kommt und geht. Wir spüren, wie wir entspannter und ruhiger werden.

Dann blicken wir zurück auf die letzten Stunden oder Tage und erinnern uns einer Begegnung, bei der wir freundlich und herzlich zu jemandem waren. Wir suchen nichts besonderes - nur eine alltägliche Szene des Entgegenkommens. Uns interessieren nicht die Einzelheiten dieser Situation, sondern lediglich, wie wir uns dabei fühlten, wie uns innerlich zumute war. Mit diesem Gefühl machen wir uns ganz vertraut, betrachten es und vergewissern uns seiner Qualität.

Das Empfinden in uns wird deutlicher und stärker. Wir lassen zu, daß es sich ausbreitet - bis wir nichts anderes mehr in uns wahrnehmen. Nun denken wir an diejenigen Menschen, die uns am meisten bedeuten; mit denen wir zusammenleben oder sonst sehr eng verbunden sind. Ihnen gilt unsere ganze Zuneigung. Ebenso wenden wir uns unseren besten Freunden zu, so wie sie vor unserem geistigen Auge erscheinen. Jetzt Menschen, mit denen wir oft zu tun haben: Verwandte, Bekannte, in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz, unterwegs - wo immer wir sie treffen. Wir machen keinerlei Unterschied in unserer bedingungslosen Freundlichkeit ihnen gegenüber. Zuletzt denken wir an jemanden, von dem wir glauben, daß er uns stört und Unannehmlichkeiten bereitet, dessen Verhalten unverständlich und inakzeptabel erscheint, der uns verunsichert, den wir ablehnen. Doch in diesen Augenblicken begegnen wir ihm ohne Einschränkung mit demselben Wohlwollen.

Wir lenken die Aufmerksamkeit wieder auf uns selbst und vergegenwärtigen uns noch einmal, wie es sich anfühlt, ohne Vorbehalte und voller Wärme zu sein. Wir erkennen, wie unmittelbar wohltuend und befreiend es ist - für die anderen wie auch für uns selbst. Und wir wissen jetzt, daß dieses Empfinden in uns vorhanden ist, daß wir es wecken und zum Ausdruck bringen können, wenn wir es lange genug und oft genug vergegenwärtigen.

Ist das alles?

Enttäuscht von diesem unscheinbaren Training? Gewiß, das sind keine spektakulären Aktionen. Nichts ist nach außen sichtbar, niemand wird sie zur Kenntnis nehmen, niemand über sie in der Presse berichten, und zur unmittelbaren Veränderung der öffentlichen Meinung tragen sie ebenfalls nicht bei - zunächst wenigstens nicht. Was bedeutet es also angesichts einer weitverbreiteten, manifesten Fremdenfeindlichkeit!?

Und dennoch: Wo das Fundament nicht sicher steht, können die Wände nicht tragen, das Gebäude kann niemanden sicher beherbergen. „Vom Denken gehen die Dinge aus." Und zwar zuallererst von unserem eigenen. Für das eigene Denken und Empfinden haben wir die volle Verantwortung. Wenn es hier Defizite gibt, ist vielfach fruchtloser Aktionismus die Folge. Sind aber Offenheit und Toleranz, Solidarität und Rücksicht bestimmende Qualitäten in uns, drücken sie sich auch verläßlich im Handeln aus.

 


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