Buchbeitr?ge - Auf stillem Pfad

Nirvana

Alfred Weil

Das Wort ist in unserer Alltagssprache längst angekommen: Nirvana. Doch verbinden sich mit ihm sehr unterschiedliche, ja manchmal gegensätzliche Gedanken und Empfindungen. Da schwingen zum einen Assoziationen von angenehmen Empfindungen, von Geborgenheit und Glück mit. Das hat dazu geführt, dass viele Artikel unter diesem Begriff als Markennamen erfolgreich für sich werben. Eine Schokoladenmarke verspricht so etwas wie himmlischen Genuss, eine Matratze selige Ruhe und ungestörten Frieden. Räucherstäbchen suggerieren überirdischen Duftgenuss, ein Damenfingerring außergewöhnliche Schönheit. Teesorten, Lampen, Ferienaufenthalte und manches mehr machen so auf sich aufmerksam. Sogar ein chemisches Produkt, das bei belastendem Elektrosmog für Entspannung zu sorgen verspricht.
Aber durchaus nicht jeder verbindet mit diesem Wort etwas Wohltuendes und Erstrebenswertes. Viele verwenden es geradezu unter einem negativen Vorzeichen. Hört man doch nicht selten, dass etwa eine gute Idee, ein vielversprechendes Vorhaben oder eine aussichtsreiche Aktion einfach im Nirvana verschwunden ist, das heißt, unwiederbringlich zu Nichts zerflossen ist. Man sucht etwas und kann es nicht finden: Nun, der vermisste Gegenstand ist eben im unergründlichen Nirvana gelandet, ein für alle Mal verloren. Und die besondere Schreckensvision unserer digitalen Zeit kann ebenfalls treffend ausgedrückt werden: Die wertvollen Dateien auf dem Computer werden doch hoffentlich nicht im alles verschlingenden Daten-Nirvana untergehen! So liegen also in diesem einen Wort unerfüllte Sehnsucht und instinktive Sorge eng beieinander.

Tatsächlich ist Nirvana keine Angelegenheit allgemein menschlicher Erfahrung. In unserer sinnlichen Welt ist es nicht zu finden, es ist materiell-dinglich nicht fassbar. Und auch der geistigen Betrachtung scheint es sich zu entziehen. Die europäische Kultur als solche kann sich bis heute für das Thema nicht erwärmen und steht ihm fremd oder gar ablehnend gegenüber. Mit der Aufklärung, mit der Verbreitung der Naturwissenschaften und ihren technischen Erfolgen und Versprechungen sind religiöse Fragen generell in den Hintergrund getreten. Alles Transzendente wurde im Laufe der Zeit suspekt, das Materielle zum Maß der Dinge. Das verbleibende Christentum wiederum ging seine Wege. Es suchte das höchste existenzielle Gut zwar jenseits des Irdischen und Dinglichen – aber im Verhältnis des Menschen zu Gott und in der Erlösung durch Jesus Christus. Es begrenzte damit ebenfalls den Blick für die gesamte Realität entscheidend.
Aber damit ist das entscheidende Stichwort gefallen: das „höchste existenzielle Gut“, das ein Mensch, ja ein Wesen überhaupt erlangen kann. Die buddhistische Tradition verwendet dafür eben diese Bezeichnung: Nirvana (Sanskrit; Pali: nibbāna). Es steht für die Befreiung von jeder Unzulänglichkeit und Unvollkommenheit. Es meint das völlige Enden von Bedrängnis, Schmerz und Kummer. Es deutet auf einen Zustand, der von Alter, Krankheit und Tod völlig unberührt bleibt. Nirvana gilt als ein Ziel, über das hinaus es nichts mehr anzustreben und nichts mehr zu erreichen gibt. Einmal verwirklicht, kann es auch nicht wieder verloren gehen. Nirvana ist das höchste Wohl.

Ein wahres Glück ist das Nibbānam,
vom recht Erwachten aufgezeigt:
das sorglos, schmutzfrei, voller Frieden,
wo Leiden ganz zur Ruhe kommt.
(Theragāthā 227 – Bākulo – Übersetzung: Ekkehard Saß)

Eben das macht den Kern der buddhistischen Lehren aus. Allein darauf laufen alle Darlegungen des Erwachten hinaus. Nirvana ist das eigentliche Markenzeichen des Buddhadhamma, wodurch er sich von allen anderen religiösen Traditionen und Weltanschauungen unverwechselbar unterscheidet.
Dennoch – oder gerade deshalb – hat der Buddha über diese „letzten Dinge“ eher selten gesprochen beziehungsweise nur dann, wenn seine Zuhörer entsprechend vorbereitet waren. Dabei stets ihrem Verständnisvermögen und ihrer emotionalen Verfassung angepasst.
Oft beschränkte er sich auf Ratschläge, wie die Menschen ihre gegenwärtige Lebenssituation verbessern und angenehmer gestalten konnten. Solche Empfehlungen waren denen anderer großer Menschheitslehrer und Religionsgründer ganz ähnlich: Sie zeigten die Bedeutung von Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft, von moralischer Integrität und ethischem Handeln. Für viele war es bereits eine anspruchsvolle Aufgabe, moralische Grundregeln einzuhalten und eine freundliche und wohlwollende Einstellung zu gewinnen.
Darauf aufbauend vermittelte der Buddha, dass unser Leben nicht auf die eine kurze Periode des Menschseins beschränkt ist, sondern sich jenseits des Todes fortsetzt. Und das in untermenschlichen, überaus leidvollen, wie übermenschlichen Daseinsformen, in die die Wesen entsprechend der Qualität ihres Wirkens (kamma) gelangen.
Im 21. Jahrhundert sind solche Aussagen, die der Buddha wiederholt als von ihm erkannte Realität bezeichnet, für die meisten Menschen nicht mehr annehmbar. Selbst für viele Buddhisten nicht. Das „Jenseits“ – und insbesondere „himmlisches Dasein“ – liegen heute abseits der allgemeinen Vorstellungskraft. Von realen Jenseitserfahrungen – in früheren Zeiten noch reichlich vorhanden – ganz zu schweigen. Umso fremder, ja befremdlicher muss das erscheinen, was der Buddha noch darüber hinausgehend lehrte: nämlich die Möglichkeit, sinnliche Erfahrung nicht nur zu sublimieren und glückvoller zu gestalten, sondern gänzlich zu übersteigen. Es ist sicher nicht leicht zu verstehen, dass es Erleben jenseits des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens und grober Denkvorgänge überhaupt gibt. Und dazu noch ein überaus glückseliger Zustand ist. Die christliche Mystik des Mittelalters hat solche geistigen Erfahrungswege noch gekannt und beschritten. Mit ihrem Ende sind auch diese spirituellen Lichtblicke verloren gegangen.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass sogar treue Anhänger des Buddha schon zu seinen Lebzeiten offen bekannten: „Wir genießen die Sinnendinge, erfreuen uns an ihnen, und so soll es auch bleiben. Entsagung erscheint uns da wie ein Abgrund.“ Diese Beschränkung des geistigen Horizontes und der Interessen ist nachvollziehbar, und die allermeisten ihrer Zeitgenossen empfanden es ähnlich. Sie waren religiöse Menschen, die an eine bessere Zukunft dachten, meist auch über den Tod hinaus. Dafür erhofften sie sich von den Lehren des Buddha Orientierung und konkrete Hilfe. Noch weiter gesteckte Ziele und Perspektiven waren selten.
Und dennoch: Schon immer gab es Suchende, die dem Wesen der Existenz ganz auf den Grund gehen und die drängenden Fragen des Daseins ein für alle Mal lösen wollten. Ihnen ging es nicht um Erleichterung oder Verbesserung ihrer derzeitigen Lage allein. Ihr Sinn war auf anderes gerichtet, sie trieb ein weiter gespanntes Sehnen immer wieder um:

Versunken bin ich in der endlosen Kette von Geborenwerden, Altern und Sterben und Wiedergeborenwerden, Altern und Sterben, in Leiden versunken, in Leiden verloren. O daß es doch einen Ausweg geben möge, um dieser Leidensmasse zu entrinnen.
(M. 29)

Ihnen ging es um die letzten Dinge des Daseins, und im damaligen Indien war der Buddha der Einzige, der eine gültige Antwort auf diese Frage geben konnte. Weil er sie sich einst selbst gestellt und nach langem Ringen eine zufriedenstellende Lösung gefunden hatte. Er wollte wissen, was Leiden (dukkha) ist und wieweit es reicht. Das Ergebnis seiner Untersuchung: Schlechthin alles Gewordene und Bedingte ist vergänglich, substanzlos und daher unzulänglich. Keine weltliche Erscheinung taugt zu wirklichem und dauerhaftem Glück und innerem Frieden. Er wollte wissen, was Leiden bedingt. Seine Erkenntnis: „Durst“ beziehungsweise Haben- und Seinwollen sind zusammen mit „Unwissen“ verantwortlich für das Fortbestehen aller Unvollkommenheit. Gibt es einen Ausweg, und wie sieht er aus? So fragte er weiter und fand heraus: Ja, den gibt es, und er besteht in der Überwindung eben von Verlangen und Illusion. Leiden endet mit der Verwirklichung von Nirvana, dem Ungeschaffenen. Es endet mit dem Verlöschen aller Daseinserscheinungen und dem Verschwinden ihrer Ursachen Gier, Hass und Verblendung. Und das praktische Vorgehen beschreibt schließlich der achtgliedrige Weg, Inhalt der vierten heilenden Wahrheit.
Der Buddha berichtet selbst, dass er nach seinem Erwachen zunächst gar nicht lehren wollte. Er sagte sich: Es ist zwecklos. Die Menschen wollen etwas Derartiges nicht hören, weil sie zu sehr in ihre irdischen Belange verstrickt und von vordergründigen Interessen gefangen sind. Sie haben kein offenes Ohr für solche tiefgründigen Dinge. Außerdem ist ihr verblendeter Geist nicht in der Lage, etwas mit den von mir entdeckten außerordentlichen Wahrheiten anzufangen. Erst auf Bitten eines hohen Geistwesens ließ er seinen wachen Blick über die Welt schweifen und er erkannte, dass es doch einige Menschen mit wenig Staub auf den Augen gab. Sie könnten und würden ihn verstehen.
Auf einer anderen Ebene finden wir also schon zur Zeit des Buddha die Ambivalenz, von der ich eingangs sprach. Nirvana war für den einen das nackte Nichts, Vernichtung, Untergang von Ich und Welt, im besten Fall eine eigenschaftslose öde oder gähnende Langeweile. Es schien das Opfer des bunten, prallen Lebens zugunsten von etwas Ungewissem und wenig Anziehendem zu fordern. Die eigene Person schien in Gefahr, das Ende aller Freude der zu zahlende Preis. Wozu dann Nirvana? Sensiblere und eine ganz andere Wirklichkeit ahnende und suchende Menschen hingegen hatten das intuitive Empfinden für seine eigentliche Qualität: höchstes Wohl, namenlose Geborgenheit, unaussprechlicher Friede. Das Ende des Leidens war endlich gefunden und hatte einen Namen. Äonenlang vergessenes Wissen wurde den Menschen wieder zugänglich, nachdem der Buddha sich doch zu lehren entschloss.
Allerdings: Bei dem Empfänger dieser beispiellosen Lehre müssen die Voraussetzungen gegeben sein, wenn er wirkliches Verständnis gewinnen will, ohne intellektuellen Spekulationen zu verfallen, ohne mit leeren Begriffen zu operieren oder sich mit bloßen Worthülsen zu begnügen. Eine der Hauptbedingungen habe ich schon skizziert: Die genannten einführenden Lehren des Buddha – Geben, ethisches Verhalten, übermenschliches Dasein, Weltüberwindung – müssen verstanden und ihr Wahrheitsgehalt anerkannt sein. Ohne deren Kenntnis und innere Akzeptanz kann der tiefste Gehalt der buddhistischen Wahrheiten nicht gefasst werden.
Die zweite notwendige Bedingung, die momentane innere Aufnahmebereitschaft bei der Begegnung mit dieser Lehre, formulieren die überlieferten Texte etwa so: „Wenn der Erwachte merkte, dass sein Gesprächspartner bereit, aufgeschlossen, ohne innere Blockaden, konzentriert und unabgelenkt war, dann sprach er über die eigentlichen, die entscheidenden Aspekte des Dhamma.“ Und dann war es möglich, dass dem Betreffenden „das klare und reine Auge der Wahrheit“ aufging. Er erlangte für einen Blitzaugenblick den Anblick des Todlosen, er sah für einen Moment das „jenseitige Ufer“, Nirvana war gewonnen.
Zu der besonderen Kunst des Erwachten, Herz und Geist seiner Zuhörer für die tiefsten Einsichten zu öffnen, kam seine unübertroffene Sprachkunst. Ihm war es möglich, über etwas zu reden, das eigentlich jenseits aller Sprache liegt. Alle Worte, Begriffe und Vorstellungen, derer wir uns bedienen, basieren auf weltlichen Erfahrungen. Sprache benennt und beschreibt, was wir sinnlich wahrnehmen und worüber wir nachdenken. Sie kann erfassen, was zur Erscheinungswelt gehört und unsere erfahrbare Realität ausmacht. Die Genialität des Buddha bestand darin, diese Grenze zu überschreiten und auch das Unfassbare in Worte zu fassen.

In dem vorliegenden Buch kommen drei herausragende Persönlichkeiten und Kenner des Dhamma zu Wort. Sie bringen uns das Thema auf verschiedene Weise nahe. Dem ehrwürdigen Nyānaponika Mahāthera geht es vor allem darum, zwei gängige Fehlinterpretationen und die Gründe für ihre Haltlosigkeit aufzuzeigen. Nirvana als Ziel der buddhistischen Praxis stellt nämlich weder die Vernichtung noch ein wie auch immer geartetes zeitloses Fortbestehen einer Person oder eines Ich in Aussicht. Die Wahrheit des Buddha liegt auch hier in der Mitte: Es geht um die Beendigung der Ich-Illusion und des Leidens.
Damit begibt sich der Autor, wie er selbst sagt, auf eine Gratwanderung. Diese Mitte kann nur mit genügender Selbstkontrolle und Genauigkeit gewahrt werden. Vor allem die tief verwurzelte Gewohnheit, in den Kategorien von „Sein“ und „Nicht-Sein“ zu denken, verführt allzu leicht zu einer einseitigen Deutung von Nirvana. Es wird dann entweder nihilistisch oder positiv-metaphysisch verstanden. Das erste Extrem sieht darin das absolute Nichts, das zweite einen transzendentalen „Ort“ für das zeitlose Verbleiben eines geläuterten Ich oder Selbst. Der mittlere Weg des Erwachten vermeidet beide Irrtümer: mit der Lehre des bedingten Entstehens und bedingten Vergehens aller Phänomene.
Paul Debes möchte dem Leser zwei häufig gestellte Fragen beantworten: Ob „wir“ als Person in das Nirvana eingehen, ist die erste. Sie wird mit Recht verneint, stammen doch alle Bezeichnungen und Vorstellungen von „ich“, „mein“ und „wir“ aus der trügerischen Suggestion der fünf Daseinsfaktoren. Das Zusammenspiel von Form, Gefühl, Wahrnehmung, Aktivitäten sowie deren Dynamik und Nirvana schließen einander aber aus. Damit haben auch „Ich“ und Nirvana nichts miteinander gemein.
Für die zweite Frage gilt Ähnliches: Gehen Welt-Erscheinung und Ich-Erscheinung aus dem Nirvana hervor, und kehren beide wieder dorthin zurück? Wenn man Nirvana als das Absolute versteht, kann es keine Verbindung zum Relativen geben – weder in der einen noch in der anderen Richtung. Die völlige Freiheit erreicht zu haben ist endgültig.
Hellmuth Hecker setzt die Schwerpunkte seiner Betrachtungen etwas anders. Natürlich geht auch er auf die existenzielle Bedeutung von Nirvana und dessen herausragende Qualität ein. Sie besteht in der völligen Wunschlosigkeit im Gegensatz zu dem Leid bringenden Begehren und Streben, dem alle unbelehrten Wesen ausgeliefert sind. Sein Interesse gilt den Fragen, ob Nirvana aus menschlicher Perspektive als etwas Immanentes oder als etwas Transzendentes zu verstehen ist und was es für den Einzelnen praktisch bedeutet: Heißt es für mich Vernichtung oder Ewigkeit?
Hecker lässt seinen Ausführungen eine ausführliche Stellenlese aus dem Palikanon folgen. Wichtige Kernaussagen zu verschiedenen Einzelaspekten – Wunschlosigkeit, höchstes Wohl, Unsterblichkeit, Unvergleichlichkeit, Sicherheit – laden ein, sich mit den Worten des Buddha selbst vertraut zu machen und sich so ein eigenes Urteil zu bilden.

Das nicht sehr umfangreiche Buch ist indessen inhaltsreich und stellt eine anspruchsvolle Lektüre dar. Es umfasst eine Vielzahl von Gedanken und Anregungen, sich dem schwierigen Thema zu nähern. Es bietet ausreichend Stoff für das intellektuelle Verständnis und liefert authentische Quellentexte für wiederholende und stillere Betrachtungen. Es erinnert schließlich daran, dass Nirvana nicht erdacht werden kann, sondern gemäß der dritten heilenden Wahrheit des Buddha „zu verwirklichen“ ist. Der Weg dahin ist der Edle Achtfache Pfad, der wiederum „zu gehen“ ist.


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