Zwei Wege - Zwei Ziele

Naturwissenschaft und Buddhismus

Das Weltbild im Westen ist heute wesentlich naturwissenschaftlich geprägt. Es wird getragen von dem Vertrauen in die Erkenntnisfähigkeit des Menschen und von den Erfolgen der praktischen Umsetzung entdeckter Naturgesetze mit Hilfe der Technik. Dagegen ist die christliche Weltanschauung immer mehr ins Hintertreffen geraten. Glaube, vom Klerus aus innerkirchlichen Gründen vielfach zum dogmatischen Dreh- und Angelpunkt umstilisiert, konnte sich letztlich gegenüber der Überzeugungskraft nachprüfbarer Erkenntnis nicht in gleichem Maße behaupten. Damit aber war und ist zugleich die Religion als solche weitgehend in Misskredit geraten, weil viele ihrer Aussagen als überholt oder gar unzutreffend gelten und ihr die öffentliche Meinung generell Wissenschaftlichkeit abspricht.

Aus buddhistischer Sicht muss dagegen Einspruch erhoben werden. Glaube im Sinne des unbedingten Fürwahrhaltens von grundsätzlich nicht einsehbaren Sachverhalten mag Bestandteil bestimmter Religionen sein, er ist es indessen keineswegs in allen spirituellen Traditionen, genauso wenig wie ‚Gott' oder ‚Offenbarung'. So kann die Lehre des Buddha durchaus als Religion und als Wissenschaft verstanden werden. Ja, sie erhebt sogar einen besonderen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, den sie mit einer ungebrochenen Aktualität und einer kaum zu überschätzenden praktischen Bedeutung für uns verbindet.

Auf der anderen Seite gibt es immer wieder Versuche, die Lehren des Erwachten mit der Naturwissenschaft in Verbindung zu bringen oder gar eine Synthese beider zu erreichen. Dabei wird gelegentlich die Behauptung vertreten, dass beide, Naturwissenschaft und Buddhismus, auf denselben Grundlagen beruhen. Inwiefern dieser Ansatz ebenfalls unangemessen ist, ist Thema der folgenden - allerdings exemplarischen, vereinfachenden und zugespitzten - Betrachtung.

Die vermeintliche Objektivität der ‚Welt'

Das Ziel der ‚klassischen' Naturwissenschaft ist Naturerkenntnis. Sie erhebt den Anspruch, ihr Wissen durch Erfahrung zu erlangen, die prinzipiell wiederholbar und jedem zugänglich ist. Die Naturwissenschaft sammelt die ihr direkt oder über technische Geräte indirekt verfügbaren Sinnesdaten, ordnet und verknüpft sie, sucht gesetzmäßige Zusammenhänge und insbesondere kausale Beziehungen. Dabei setzt sie auf genaue Beobachtung und Experiment und spricht sich gegen jede Form von Dogmatismus, Glauben und Spekulation aus. Sie will die Dinge selbst sprechen lassen, sie will objektiv und unabhängig sein. Verfälschende Gefühle, vorgefasste Meinungen oder eventuelle persönliche Interessen sollen den Erkenntnisprozess nicht beeinflussen. Ihre bisherigen Theorien will die Naturwissenschaft von Irrtum und Täuschung befreien, sie will sie systematisch erweitern und über die Technik auch zum Wohl der Menschen praktisch nutzen.

An diese Sichtweise sind wir mittlerweile so gewöhnt, dass sie uns weitgehend zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Vor allem sind wir von der vermeintlichen Voraussetzungslosigkeit und der unbedingten Sachlichkeit dieses Ansatzes überzeugt. Mit Recht?

Der ‚naive' Mensch vertraut auf seine Sinne, wenn er sich ein Bild von der Welt machen will. Er glaubt an die Realität dessen, was er sehen, hören, riechen, schmecken und anfassen kann. Damit erliegt er jedoch einer Illusion, wie die nähere Prüfung zeigt. Ein einfaches Beispiel: Bei jedem Menschen, der uns begegnet, gaukeln unsere Sinne eine feste, schwere und massive Gestalt vor. Doch das ist trotz des überzeugenden Augenscheins eine Täuschung. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass ein Mensch -‚materiell' betrachtet - so gut wie ‚nichts' ist. Eine der wissenschaftlichen Theorien über die Materie bzw. den Bau der Atome legt nahe, den physischen Menschen - wie auch alle unbelebten ‚Dinge' - als fast leeren Raum anzusehen, in dem sich winzige Materieteilchen in großer Geschwindigkeit bewegen. Die Größe eines Stecknadelkopfes ist ein häufig verwendeter Vergleich für den eigentlichen Anteil der ‚Materie' an unserem Körper. Eine spätere Auffassung sieht in der Materie gar nur noch eine besondere Erscheinungsform von Bewegungsenergie, die sich in einem Spannungsfeld an wenigen Stellen gleichsam zu ‚Partikeln' verdichtet.

Es ist zweifellos das Verdienst der Naturwissenschaften, den allzu naiven Realismus durchschaut und im Experiment seine Unhaltbarkeit nachgewiesen zu haben. Die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise hat inzwischen manchen Irrtum auch im Großen aufgedeckt. So wissen wir heute, dass sich die Erde um die Sonne dreht, obwohl unsere Sinneswahrnehmung genau das Gegenteil signalisiert. Uns ist klar, dass die Erde keine flache Scheibe ist, wie sie dem Auge erscheint, sondern eine Kugel. Wir erkennen an, dass unser Planet nicht der Mittelpunkt des Kosmos ist, sondern nur einer unter unüberschaubar vielen Himmelskörpern.

Aber es ist trotz dieser und anderer desillusionierender Entdeckungen das grundsätzliche Vertrauen der Naturwissenschaft in die Aussagekraft der Sinne bzw. der Sinneswahrnehmung geblieben. Ihre Informationen werden ernst genommen und zur Grundlage der Forschung gemacht. Dieses Vertrauen nährt sich von einer gewissen Stabilität und Kontinuität der Welterscheinungen und der Verlässlichkeit ihrer Beziehungen zueinander. „Weil die Dinge sind, können wir sie sehen." „Weil die Natur mit ihrer Gesetzlichkeit existiert, kann sie von den Menschen erkannt, untersucht, verstanden und gestaltet werden." So evident diese Sätze erscheinen, so fragwürdig sind sie dennoch. Sie beinhalten nämlich ein folgenschweres und unbegründetes Dogma: das einer von uns unabhängigen, objektiven Welt in Raum und Zeit.

Der mutmaßliche Vorrang der ‚Materie'

Mit diesem ersten Dogma ist ein zweites eng verbunden. Die Frage nach dem Verhältnis von Materie und Geist entscheidet die Naturwissenschaft traditionell zugunsten der Materie. Sie ist es, die angeblich primär besteht und sekundär Bewusstsein aus sich hervorbringt. Auch wenn der Naturwissenschaft der eigentliche Vorgang dieser Transformation zugestandenermaßen noch nicht verständlich ist, beharrt sie dennoch auf dieser These, die sie naturgeschichtlich erhärten will.

Eines der gängigsten Modelle unterstellt eine lange Entwicklung vom so genannten Urknall bis heute. Es beschreibt die Entstehung der Planeten, die Herausbildung der organischen aus der anorganischen Materie, das Auftauchen zunächst einfachster Lebensformen, dann das der Pflanzen und der niederen und höheren Tierarten. Am Ende dieses Prozesses steht der intelligente, mit Vernunft oder gar Weisheit begabte Mensch als Krone der Schöpfung. Auf einer - alles in allem recht späten - Entwicklungsstufe vollzieht sich jener Theorie zufolge dann etwas sehr Bemerkenswertes: Der letztlich aus unbelebter Materie hervorgegangene, hochkomplizierte, mit den fünf Sinnesfähigkeiten, mit Denkvermögen und Bewusstsein ausgestattete menschliche Körper nimmt nun sich und die materielle Umwelt wahr.

Es blieb dem Buddha vorbehalten, diesen sich geradezu aufdrängenden, verführerischen und fast nicht zu durchschauenden Trug zu entlarven und einen noch viel tieferen Blick hinter die Kulissen der Wirklichkeit zu werfen, als ihn die Naturwissenschaft im Gegensatz zu uns Alltagsmenschen schon versucht. Dabei ist das Resultat ebenso schlicht wie naheliegend und wird gerade deshalb immer wieder ignoriert. Die grundlegendste Feststellung über die Wirklichkeit und die Voraussetzung von Erkenntnis ist nämlich nicht das Sein der Dinge, sondern das In-Erscheinung-Treten, das Bewusstwerden der Dinge.

Wahrnehmung oder Bewusstheit ist die eigentliche Dimension des Daseins. Nur in ihnen spielt sich Existenz tatsächlich ab. Nur als Wahrgenommenes ist etwas überhaupt da. Für den Buddha gibt keine ‚tatsächliche' Welt ‚hinter' dem Wahrnehmungsvorgang und keine Dinge ‚an sich'. Sie erforschen zu wollen und über sie nachzudenken ist gleichermaßen ergebnis- wie sinnlos. Was nicht in irgendeiner Weise in unser Bewusstsein tritt und zum Erlebnis wird, bleibt ohne jegliche Relevanz für uns und kann allenfalls Gegenstand von Spekulation sein. Welt ist immer nur erlebte Welt, Ich immer nur erlebtes Ich. Bewusstsein und Ich kommen nicht in der Welt vor, sondern Ich und Welt kommen im Bewusstsein vor. Wahrnehmung und Bewusstheit ‚fotografieren' nicht eine ‚äußere Realität' und produzieren nicht gute oder mangelhafte Abzüge von ihr; sie sind die Form, in der sich das Dasein manifestiert. Die Wissenschaft des Buddha besteht deshalb nicht in erster Linie darin, die scheinbar gegebenen ‚harten Fakten' des Lebens und ihre Beziehungen zueinander zu untersuchen. Sie will vielmehr die Gesetzmäßigkeiten des Bewusstwerdeprozesses aufdecken. Für sie ist maßgeblich, unter welchen Bedingungen wir überhaupt etwas erleben.

Das vor Augen können wir vielleicht erahnen, warum der Buddha unbelehrte Menschen als Wesen charakterisiert, die durchweg in Unwissenheit und Irrtum leben. Um es zugespitzt zu formulieren: Das unkritische Für-Wahr-Halten dieser Welt ist aus seiner Sicht nichts weniger als eine kollektive Wahnvorstellung. Und wir sind nichts weniger als Wahnkranke, die unausgesetzt auf Trugbilder und Traumerscheinungen hereinfallen und das nicht einmal ahnen.

Sucht man nach dem Ursprung aller Erscheinungen - dort sind sie zu finden: in seelisch-geistigen Kräften. Wie die Bilder unserer nächtlichen Träume nicht auf tatsächlichen Landschaften, Gebäuden und Lebewesen beruhen, sondern das Ergebnis psychischer Energien sind, so entstammt auch unser tagtäglicher Lebenstraum nicht einer ‚Welt der materiellen Tatsachen'. Er gleicht eher einem Fieber aus Begehren und Aversion, das teils faszinierende und teils uns abstoßende Phantasien hervorbringt.

Erkenntnis und Sinneswahrnehmung

Gewiss hat auch der Buddha auf unmittelbare, nachprüfbare und präzise Erfahrung gesetzt. Er betonte stets, das von ihm Gelehrte zuvor selbst gesehen, erkannt und an sich verwirklicht zu haben. Nichts sei von ihm bloß erdacht, zusammengesponnen oder nur Produkt seiner Einbildungskraft. Doch hat der Erwachte vor allem den Erfahrungsvorgang selbst und dessen Bedingungen gründlich analysiert. Dabei ging ihm auf, dass unser Sinnesvermögen - also die Fähigkeit zu sehen, hören, riechen, schmecken und tasten - weder die einzige noch eine verlässliche Quelle des Wissens darstellt.

Sicher liefern die Sinnesorgane Eindrücke und Informationen über die ‚Welt', die der Geist als inneres Sinnesorgan sammelt, strukturiert und zu einem Gesamtbild gestaltet. Aber sie erschließen keineswegs das gesamte Potential unserer Erfahrungsmöglichkeiten. Das müssen wir aber ausschöpfen, wenn wir die Existenz wirklich verstehen und meistern wollen. Der unverwandte Blick ‚nach draußen' und die Erforschung ‚äußerer Vorgänge' lässt etwas ganz Wesentliches völlig unbeachtet: den im engeren Sinne ‚lebendigen Menschen'; seine Gefühle und Empfindungen, seine Willensregungen, Wünsche, Sehnsüchte; Freude, Schmerz, Trauer, Wut usw. Wer diesen Teil der Realität ausblendet, missachtet das unausgesetzte Zusammenspiel der ‚äußeren' und ‚inneren' Faktoren, die zusammen das ‚Leben' erst ausmachen. ‚Seelische' und ‚geistige' Gegebenheiten sind aber nicht weniger erfahrbar als materielle Gegenstände. Wenn auch nur bei uns selbst und nicht mit Hilfe der äußeren Sinnesorgane, sondern als unmittelbares Erlebnis.

Siddhartha Gautama wurde ein Buddha, nachdem er begonnen hatte, seine Aufmerksamkeit (manasikara) konsequent in eine andere Richtung zu lenken. Er richtete sie nicht länger nur auf die mannigfaltigen gegenständlichen Erscheinungen selbst, sondern er spürte von da an unablässig deren Herkunft nach. Er suchte die Gesetzmäßigkeiten, nach denen sie auftauchen und wieder verschwinden. Sein Blick wendete sich weg von der Oberfläche der Phänomene, hin zu ihrer Entstehung (yoniso manasikara; yoni = Schoß, Ursprung).

Diese Haltung erwies sich als im tiefsten Sinne desillusionierend. Mit einem Male war die Welt nicht mehr einfach ‚da', sie fußte nicht länger im Materiellen, Dinglichen, Objekthaften. Welt, so die Einsicht des Buddha, ist nichts anderes als eine Spiegelung unserer Psyche (citta). Metaphorisch ausgedrückt, ist sie der sichtbar gewordene Ausdruck der drängenden Kräfte unseres Herzens. Das ganze äußere Blendwerk ist geschaffen von machtvollen Triebkräften des Verlangens und der Aversion. Von Zuneigung und Abneigung. Solange es ‚Gier' und ‚Hass' gibt, gibt es Welterscheinung, und zwar genau entsprechend ihrer Stärke und Beschaffenheit. Solange wir diesen Blendungscharakter der Daseinsphänomene nicht durchschauen, werden wir auf die für wirklich gehaltenen Trugbilder immer wieder hereinfallen und auf sie reagieren. Die angenehmen wollen wir ergreifen und die unangenehmen zurückstoßen. Damit setzen wir den Daseinskreislauf fort, wir streuen weitere karmische Saat und schaffen weitere karmische Ernte. Wir mehren den Strom des Werdens, bauen weiterhin ‚Welt', die wir dann wieder vorfinden, um sich mit ihr erneut auseinanderzusetzen.

Dieselben inneren Neigungen und Sehnsüchte sind es auf der anderen Seite auch, die die Sinnesorgane erst die jeweiligen äußeren Objekte wahrnehmen lassen. Das Auge als physisches Organ allein sieht nicht. Es ist nur dann ein brauchbares Instrument, wenn es gleichzeitig von dem entsprechenden Bedürfnis nach Seherlebnissen besetzt ist. Die Welt ‚drängt' sich uns nicht irgendwie von sich aus ‚auf'. Wir nehmen sie wahr, weil ein Bezug besteht, sei er positiv oder negativ, weil innere Anliegen ihre äußeren Entsprechungen finden. Was wir am stärksten angenehm oder unangenehm empfinden, kommt zugleich auch am stärksten zu Bewusstsein. Schon deshalb ist unsere Wahrnehmung kein getreues Abbild der Realität. Unsere Zu- und Abneigung diktiert, in welchen Farben und wie grell uns die Dinge erscheinen.

Transzendenz und Fortexistenz

Das Dogma, dass Leben und Bewusstsein nur auf der Basis unseres physischen Körpers möglich sind, begrenzt noch auf andere Weise unser Blickfeld. Aufgrund dieser selbst auferlegten gedanklichen Sperre ist der Naturwissenschaft alles ‚Transzendente' grundsätzlich suspekt. Sie kann nur das untersuchen, was ‚vor Augen liegt'. Ja, sie kann etwas anderes per se nicht als real anerkennen und verweist deshalb alles ‚Jenseitige' in den Bereich der Spekulation und der Phantasie.

Anders der Buddha, der darauf hinweist, dass unsere Sinnesorgane, also Auge, Ohr, Nase, Zunge und Haut, nur sehr grobe Werkzeuge zur Erfassung einer grobstofflichen Realität sind. Er sagt, dass diese Fähigkeiten auf ‚feinstofflicher' Ebene noch einmal existieren. Sie sind unabhängig von unserem festen materiellen Körper und mit den üblichen naturwissenschaftlichen Methoden überhaupt nicht erfassbar. Zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte aber wurde und noch heute wird die Realität des ‚Übersinnlichen' bezeugt. Im Palikanon werden häufig das ‚himmlische Auge' und das ‚himmlische Ohr' genannt und die ihrer besonderen ‚Schwingungsebene' entsprechenden Dinge und Wesen.

Unterschiedliche Konsequenzen ergeben sich infolgedessen auch für unsere Einstellung gegenüber dem Tod. Wer Bewusstsein, Gefühl und Wollen von einem lebendigen physischen Organismus abhängig glaubt, muss vermuten, dass mit dem Tod jedes Erleben aufhört. Nun sieht jeder Naturwissenschaftler den Körper eines Verstorbenen und damit die vermeintliche Basis des Geistigen und Seelischen verfallen und sich auflösen, ohne dass dieser Vorgang je rückgängig zu machen wäre. Muss sie da nicht zwangsläufig zu der Vorstellung kommen, dass Sterben das Ende einer Person ist?
Die Naturwissenschaft kann aus den genannten Gründen Fortexistenz und das Wiedererscheinen der Wesen nicht akzeptieren. Beides wird als Aberglauben, Wunschdenken oder Phantasterei abgetan; die von dem Buddha beschriebenen über- und untermenschlichen Jenseitsbereiche, in die die Wesen ihrem Tun und Lassen gemäß eingehen, selbstverständlich ebenso. Ihnen kommt keinerlei Realität zu, sie sind lediglich von Moralpredigern und Theologen erdachte erzieherische Mittel zur Durchsetzung ethischer oder sozialer Forderungen.

Noch weniger kann die Naturwissenschaft mit der Mystik anfangen, die in vielen spirituellen Traditionen wohl bekannt ist. Im Zusammenhang mit fortgeschrittenen meditativen Übungen nennt der Buddha Möglichkeiten des Erlebens, die sich gerade dadurch auszeichnen, dass in ihnen alle Sinnestätigkeit vorübergehend aufhört. In diesen ‚Vertiefungen' oder ‚meditativen Versenkungen' (jhana) gibt es weder Sehen noch Hören, weder Schmecken, Riechen oder Tasten noch Denken, aber dennoch erfahrene Wirklichkeit. In diesem Zustand gibt es weder ‚Welt' noch ‚Ich', weder Raum noch Zeit, aber doch unbezweifelbare Bewusstheit. Sie ist ungegenständlich, und die Dualität von einem Erlebendem und etwas Erlebtem ist der Gegenwart einer ungespaltenen Einheit gewichen.

An den Materialisten gewandt heißt dies: Die Erfahrung von Formen, von Gegenständlichem und Gestaltetem ist selbstverständlich möglich. ‚Materie' ist Teil der erlebten Wirklichkeit, aber es gibt auch Bewusstseinszustände ohne jede materielle Komponente.

Kausalität und Bedingte Entstehung

Die skizzierten Zusammenhänge machen es auch schwierig, das Kausalitätsdenken der Naturwissenschaften und die Bedingte Entstehung (paticcasamuppada) ohne weiteres gleichzusetzen, wie das gelegentlich geschieht.

Sicher, beide gehen davon aus, dass unser Dasein bestimmten Regeln unterliegt und nichts ohne hinreichende Ursache geschieht. Aber die Kausalität der Naturwissenschaft beschreibt die Beziehungen vorhandener und sinnlich wahrnehmbarer Objekte zueinander. Sie untersucht die Gesetzmäßigkeiten materieller Prozesse in Zeit und Raum. Die Lehre vom Entstehen in Abhängigkeit reicht hingegen ungleich weiter. Sie macht Aussagen über die Bedingtheit der Welterscheinungen an sich, über ihre Relativität, ihre Unbeständigkeit und Substanzlosigkeit. Sie nennt die Gründe für ihr Kommen und Gehen und zeigt, warum Geist und Materie überhaupt erscheinen und wie sie sich wechselseitig beeinflussen.

Die Bedingte Entstehung ist zugleich der Schlüssel zum Verständnis der buddhistischen Karmalehre. Durch sie wird nachvollziehbar, wie aus Täuschung hinsichtlich der Wirklichkeit das Wollen und das Handeln der Menschen zustande kommt und aus ihnen wiederum ‚Ich' und ‚Welt' hervorgehen. Die Karmalehre lässt uns begreifen, warum die Individuen mit je eigenen körperlichen und geistigen Merkmalen geboren werden; warum sie ihr gegenwärtiges ‚Schicksal' erleben und ihrer unverwechselbaren diesseitigen und jenseitigen Zukunft entgegen gehen.

Aus dem Karmagesetz lassen sich begründete Maßstäbe für richtiges oder unvorteilhaftes Verhalten ableiten. Hier ist die Naturwissenschaft grundsätzlich überfordert, weil sie sich in einer ganz anderen und begrenzten Dimension bewegt. Sie identifiziert allzu schnell und verkürzend unser ‚Karma' mit unseren Genen, mit ererbten Anlagen und den Gegebenheiten der physischen Umwelt. Sie schließt damit im Grunde jedes individuelle vorgeburtliche Tun als Ursache für das aus, was wir mit der Geburt vorfinden und jetzt erleben. Auf die Frage, warum jemand beispielsweise gerade diese und keine andere körperliche Konstitution besitzt, nur die genetische Ausstattung seitens der Eltern als Erklärung anzuführen, heißt im Grunde keine Antwort zu geben. Eine unerklärte Größe wird lediglich durch eine andere ersetzt.

Die Leugnung einer nachtodlichen Existenz verengt wiederum die Perspektive und die Verantwortlichkeit gegenüber der Zukunft. Wenn mit dem Tod alles vorbei ist, wie kann da mein Handeln über diese Grenze hinaus angelegt sein? Ich kann bestenfalls abstrakt die gesellschaftliche Entwicklung und das Wohl nachkommender Geschlechter im Auge haben, sehe mich aber nicht weiterhin konkret betroffen. Was nach dem Sterben geschieht, bekomme ich nicht mehr mit, es geht ‚mich' nichts mehr an.

Die Welt gestalten - die Welt loslassen und transzendieren

Wer nur nach ‚draußen' blickt, lernt viel über die ‚Welt', aber wenig über die ‚Existenz'. Wer nur die Sinnesdaten zur Kenntnis nimmt, erfährt mancherlei über einen schönen oder bösen ‚Traum', dessen eigentliches Wesen aber erfasst er nicht, und vor allem, er erwacht nicht aus ihm. Aus dieser Perspektive ist die häufig unterstellte Wertfreiheit der Naturwissenschaft und der aus ihr abgeleiteten Technik kritisch zu hinterfragen. Es ist zu prüfen, ob die Naturwissenschaft überhaupt etwas zum Heil des Menschen - in seiner tieferen, spirituellen Bedeutung - beitragen kann.

Der Buddha, der ‚Erwachte' hat den ‚Wahntraum Welt' beendet, weil er herausgefunden hat, dass jede naiv betrachtete Erscheinung in Täuschung endet. Welt ist nicht nur deshalb ‚leer', ‚substanz-‚ und ‚ich-los', weil es kein statisches und bleibendes ‚Sein', sondern nur Werden, Fließen, Entstehen und Vergehen gibt. Sie ist es vor allem, weil die Daseinsphänomene sämtlich bedingt sind, ihnen also kein unmittelbares Eigensein zukommt und sie deshalb unterschiedslos unbefriedigend und unvollkommen sind. Zur Erfüllung der menschlichen Sehnsucht nach Glück, Frieden und Sicherheit taugen sie letztlich nicht.

Wie könnte es dann darauf ankommen, diesen (selbst geschaffenen) Wahntraum immer genauer zu erforschen und immer mehr Details über ihn in Erfahrung zu bringen? Wer wie der Buddha lehrt, das Leiden in allen seinen Formen und Spielarten zu überwinden, muss Wege finden, aus diesem Traum zu erwachen. Deshalb kann es keine ‚traum-immanente' Antwort, keine ‚innerweltliche' Lösung für die eigentlichen Menschheitsprobleme geben, und keine naturwissenschaftliche Forschung kann daran etwas ändern.

Die Naturwissenschaften haben in wenigen Jahrhunderten mehr an Faktenwissen angehäuft als die Menschen in der gesamten überschaubaren Geschichte zuvor. Der Umfang von Entdeckungen und Erfindungen, von Datenmaterial und Analysen ist ins Unvorstellbare gewachsen. Und merkwürdigerweise damit auch die eigene Unwissenheit. Im Verhältnis wissen wir nämlich mittlerweile weitaus weniger als früher, weil jede gefundene Antwort eine Vielzahl neuer offener Fragen aufgeworfen und jedes gelöste Problem andere mit sich gebracht hat.

Schon längst ist niemand mehr in der Lage, den gesamten Wissensstand unserer Epoche zu überschauen. Nicht einmal der Spezialist vermag das für seinen engeren Bereich. Auf der praktischen, der technischen Seite sieht es nicht viel anders aus. Hier entziehen sich die in Gang gesetzten Prozesse der Entwicklung an vielen Punkten einer wirksamen Kontrolle. Unsere Welt ist so komplex geworden, dass sie kaum noch steuerbar ist, und das ‚Weiter so' der Verantwortlichen gleicht immer mehr einem Balanceakt, über dessen Dauer bis zum Absturz nur spekuliert werden kann. Viele der ‚genialen' Lösungen von einst sind zu lebensbedrohlichen Gefahren von heute geworden. Die Umweltmisere, die Verkehrs- und Energieproblematik sowie die Belastungen durch die militärische wie nicht-militärische Atomtechnologie seien als herausragende Beispiele genannt. Schon an ihnen zeigt sich, wie begrenzt der Einblick der angewandten Wissenschaften in die kausalen Zusammenhänge im jeweils konkreten Fall ist. Die mittel- und langfristigen Folgen können ernsthaft nicht abgeschätzt werden und sie gründen mehr auf Hypothesen oder Hoffnungen als auf sicherem Wissen. Die gegenwärtige Debatte um die Bio- und Gentechnologie steht vor demselben Dilemma. Welche nachhaltigen Konsequenzen sich aus den laufenden Experimenten und ihrer Nutzanwendungen ergeben, weiß niemand.

Ein Umdenken auf einer breiteren Basis ist nicht zu erkennen. Noch immer verläuft der Hauptstrom naturwissenschaftlichen Denkens in den skizzierten Bahnen, und noch immer wird die Erwartung genährt, einst das Rennen zwischen Hase und Igel gewinnen zu können und der komplizierten aktuellen Lage mit noch komplizierteren Strategien sinnvoll zu begegnen.

Es liegt indessen in der Natur der Dinge, dass auch künftig die drängenderen neuen Probleme schon längst angelegt sind, bevor die bescheidenen alten Lösungsmöglichkeiten erdacht und erprobt sind. Der Buddha hat schon vor über 2500 Jahren über die Ausdifferenzierung des Daseins, über die ‚Weltausbreitung' (papanca) und das Sich-Verlieren in der Vielfalt gesprochen. Just daran arbeitet die Naturwissenschaft weiter - auf ihre Weise und mit besonderem Hochdruck. Die technologischen Neuerungen der letzten Jahre mit Computer und Internet sind ein anschaulicher Beleg dafür. Und der Erwachte hat deutlich gemacht, dass die endgültige Aufhebung von Leiden und Unvollkommenheit (dukkha) über die Gestaltung und Umgestaltung der äußeren Welt nicht zu erreichen ist. Sein Weg war ein innerer. Seine Methode war die des Schlichterwerdens, der Vereinfachung, der Vereinheitlichung und Sammlung, des Loslassen und schließlich der Überwindung alles Bedingten.

Naturwissenschaft und Buddhismus

Ich komme zum Schluss auf die Hauptfrage, die unterstellte Übereinstimmung und die geforderte Synthese von Naturwissenschaft und Buddhismus zurück. Ist nach den bisherigen Überlegungen das erstere tatsächlich der Fall und das letztere hilfreich oder sogar notwendig?

Eine Übereinstimmung beider Disziplinen gibt es insofern, als sie jeweils den Anspruch erheben, Wissenschaften zu sein und die Realität selbst zum Maßstab zu erheben. Allerdings ist dieser Gleichklang ein eher formaler, und er reicht für eine abschließende Bewertung natürlich nicht aus. In den entscheidenden Punkten überwiegt das Trennende. Der gravierendste Unterschied: Der Buddha lehrt nicht, wie es die Naturwissenschaft in erster Linie tut, die unterschiedlichen Objekte unserer Erfahrungen zu erforschen und sie für uns nutzbar zu machen. Sein Interesse gilt vielmehr dem Zustandekommen der Erfahrung selbst. Entscheidend sind nicht die tausendfältigen Erlebnisinhalte, sondern die Gesetzmäßigkeiten, nach denen beglückende und beängstigende Erlebnisse entstehen.

Dem Buddha kommt es nicht auf die quantitative Vermehrung des Wissens über des Kosmos an. Er steht für die Qualität einer das Dasein durchschauenden Weisheit. Deshalb gibt er auch nur einen Bruchteil seiner umfassenden Kenntnisse an seine Schülerinnen und Schüler weiter. Er lehrt nur, was für die Befreiung des Menschen notwendig ist. Seht ihr die wenigen Blätter in meiner Hand und die vielen anderen auf den Bäumen ringsherum?" fragt er eines Tages, als er mit einigen Mönchen durch einen kleines Wäldchen geht. „Ja" antworten seine Begleiter erwartungsgemäß. Und der Erwachte fährt fort: „Im selben Verhältnis steht das, was ich euch verkündet habe, zu dem, das ich euch nicht verkündet habe, weil es nicht zum Nirvana taugt."

(Samyutta Nikaya 56,31)

Zur Erhellung der Daseinsrätsel und zur Lösung der eigentlichen existenziellen Fragen kann die Naturwissenschaft nichts Neues und nichts Erhellendes beitragen. Dazu sind weder die Richtung, in der sie forscht, noch die Methoden, mit denen sie ihre Erkenntnisse gewinnt, geeignet. Sie sagt vieles über das Sein, sie hat aber keine begründeten Maßstäbe für das Sollen. Und sie bleibt uns eine Antwort auf die Frage nach dem Woher, dem Warum und dem Wohin des Lebens schuldig. Hier ist die spirituelle Dimension des Daseins angesprochen, die der Buddha genauestens erkundet hat und in seinen ‚Vier Wahrheiten' auch uns zugänglich macht. Die Lehre des Erwachten ist in ihrer Substanz keineswegs ergänzungsbedürftig. Mit ihr sind die zentralen und ‚zeitlosen' Aussagen getroffen und alle not-wendigen praktischen Hilfen gegeben.


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