Zeitschriftenartikel

Der Hausvater Nakulapita

Alfred Weil

Das Alter macht Nakulapitá zu schaffen. Längst ist er nicht mehr der von einst. Er denkt nach. Er braucht jetzt eine Orientierung, die ihm hilft, mit der neuen Situation besser fertig zu werden. Was könnte da dem langjährigen Anhänger des Buddha hilfreicher sein als ein Gespräch mit dem großen Menschenkenner!? Also begibt er sich in das nahegelegene Wäldchen, in dem sich der Erwachte gerade aufhält, und spricht ihn an.
„Gealtert bin ich, o Herr, bejahrt und hochbetagt. Schwach und empfindlich ist mein Körper geworden, beständig krank. Ich bitte dich um einen Ratschlag, der mir für lange Zeit zu Glück und Wohl gereichen kann.“

Die Antwort des Buddha fällt zunächst recht knapp aus.
„So ist es, Hausvater, so ist es! Siech wahrlich, ist dieser Körper, gebrechlich und empfindlich. Wenn einer einen solchen Körper herumträgt und ihn auch nur für einen Augenblick als krankheitsfrei ausgibt – was sollte dies anderes sein als Torheit.“
Die Antwort auf die gestellte Frage besteht zunächst in einer Bestätigung: Ja, du hast Recht, unser Körper macht uns Probleme. Im Alter ist er mehr und stärker von Krankheit und Schwäche betroffen als in jungen Jahren. Aber auch sonst ist er empfindlich wie ein rohes Ei. Was du beschreibst, Nakulapitá, ist völlig normal und gar nichts Besonderes. Und du bist auch wahrlich nicht der Einzige, dem es so geht.

Nach dieser eher nüchternen Feststellung folgt aber noch eine praktische Empfehlung vom Buddha: „Daher sollst du dich darin üben: ‚Mag auch der Körper siech sein, der Geist soll mir nicht siech werden!‘“

Es geht also nicht darum, die vorgefundene Situation resignierend zur Kenntnis zu nehmen und einfach nur passiv zu erdulden. Auch stummer Ärger oder verzweifelte Auflehnung helfen hier nicht. Es geht um etwas anderes. Es geht darum, seine Aufmerksamkeit nicht allein dem eigenen Körper zu widmen, nicht ganz und gar auf ihn fixiert zu sein. Viel wichtiger ist es, seinem Geist die gebührende Beachtung zu schenken: Mein Körper wird alt und krank, dagegen ist kein Kraut gewachsen, – aber für den Zustand meiner Psyche muss das nicht gelten. Ich habe es in der Hand, in welche Richtung meine geistige und seelische Entwicklung geht.

Nakulapitā fühlt sich von den Worten des Buddha erfreut und erhoben. Er hat einen wertvollen Impuls erhalten, der ihm Zuversicht verleiht: Frohen Mutes verabschiedet er sich und geht davon. Aber bald dämmert es ihm, dass der Buddha gar nicht näher erklärt hat, was denn damit gemeint sein könnte: ‚Der Geist soll dir nicht siech werden!‘ Und er hatte auch gar nicht daran gedacht, weiter nachzufragen.

Um diese Ungewissheit schnell loszuwerden begibt er sich eilig zu Sāriputta, einem der ganz großen Schüler des Erwachten. Er ist bekannt für seine überragende Weisheit. ‚Der wird mir den Sinn der Worte erklären können‘, denkt Nakulapitá.

Nach der freundlichen Begrüßung erhebt Sāriputta sogleich das Wort: „Du siehst so gelassen, heiter und froh aus. Sicher kommst du gerade von dem Erhabenen und hast von ihm eine Unterweisung erhalten. Nakulapitā kann das natürlich nur bestätigen und erzählt in kurzen Worten, was sich gerade zugetragen hat. Einen kleinen Tadel muss er dann allerdings einstecken, eben weil er sich nicht gleich den Sinn des Gehörten hat erklären lassen: ‚Inwiefern ist, o Herr, siech der Körper und siech der Geist? Und inwiefern ist, o Herr, wohl der Körper siech, nicht aber der Geist?‘

Aber schlimm ist das Ganze natürlich nicht. Nakulapitā muss erst gar nicht lange bitten, um eine ebenso umfassende wie fundierte Erläuterung zu bekommen. Ihr kann man auch entnehmen, dass der alte Mann nicht bloß an ein paar erbaulichen oder tröstenden Worten interessiert ist. Er ist als jemand bekannt, der schon lange den tiefsten Fragen des Lebens nachspürt. Sein Alltag ist durch und durch religiös geprägt, und er ist willens, sich auch über die „letzten Dinge der Existenz“ völlig klar zu werden und sich danach zu richten.
„Wie nun ist der Körper siech und auch der Geist siech?“

Der naive Weltmensch, so Sāriputta, hat keinen Blick für das Höhere und kennt nichts über das Alltäglich-Banale hinaus. Unwillkürlich identifiziert er sich mit seinem Körper. ‚Das bin __ich‘, empfindet er, ‚das ist mein Selbst‘. Oder er denkt vielleicht: ‚Ich habe einen Körper‘, ‚mein Selbst ist Besitzer und Nutzer dieses leiblichen Instrumentes‘. In jedem Fall dreht sich sein Empfinden und kreist sein Denken um die eigene Körperlichkeit. Sie ist ihm wichtig, er kann sich ohne sie ein Leben überhaupt nicht vorstellen.

Aber die Betreffenden müssen – genau wie gerade Nakulapitā – irgendwann feststellen, dass eben dieser Körper wandelbar und vergänglich ist. Alles Gestalthafte ist dem Altern, der Krankheit und dem Tod unterworfen. Ganz abgesehen von manch anderen Unannehmlichkeiten, Anfälligkeiten und Störungen. Man kann sich nur bedingt auf ihn verlassen, er folgt seiner eigenen Gesetzlichkeit. Alle Vorsorge und Gegenmaßnahmen ändern daran wenig. Insofern ist und bleibt der Körper ‚siech‘. Wer auf ihn baut und an ihm hängt, sieht sich früher oder später unweigerlich mit Schmerz und Trauer konfrontiert.

So geht es sicher vielen Menschen, denn die allermeisten empfinden eine mehr oder weniger starke Verbundenheit mit ihrem Körper. Aber durchaus nicht jeder hält ihn für sein Ich. Sie identifizieren sich eher mit den psychischen Aspekten ihrer Person. Sicher, auch sie „haben“ einen Körper, sie „sind“ aber nicht der Körper. Vielmehr verstehen sie sich eher als geistige Wesen, betrachten das Nicht-Materielle an sich als das Wesentliche.

Aber damit ist die existenzielle Problematik nicht behoben, sondern nur verschoben. Das macht der Buddha-Mönch Sāriputta seinem Gesprächspartner Nakulapitā nun klar.

Ein Gefühlsmensch mag seinem Aussehen, seinen physischen Kräften und Fähigkeiten keine besondere Bedeutung beimessen. Ihm sind angenehme Empfindungen und innere Stimmungen wichtig. Sein Lebensinhalt besteht vor allem darin, sie zu genießen und zu kultivieren. Doch auch er muss feststellen, dass die angenehmsten Gefühle, die wohltuendsten Empfindungen nicht bleiben: Sie lassen sich nicht festhalten. Wer auf sie setzt, wird ganz sicher ebenfalls enttäuscht. Wer zu seinen Gefühlen „mein“ sagt und sie bewahren will, wird sie verlieren; wer zu ihnen „Ich“ sagt, nicht weniger.

Aber Sāriputta geht mit seiner tiefen Belehrung noch weiter, denn Wandelbarkeit und Unbeständigkeit betreffen alle Aspekte des Menschen – auch seine Erlebnisse und Erfahrungen, seine ungezählten Absichten und Ziele, seine charakterlichen Eigenschaften und Gewohnheiten. Sie alle haben keine Dauer, sie rieseln dahin und lassen sich nicht verewigen. Auch hier gilt: sich an sie zu gewöhnen und an ihnen zu hängen macht verletzbar. Wer sein Herz ganz und gar einer Sache widmet, sei sie auch ganz feiner und edler Natur, wird einst unter ihrem unvermeidbaren Verlust leiden. Je leidenschaftlicher und ungebändigter ein solches Interesse ist, umso größer ist der Schmerz. – „So, o Hausvater ist siech der Körper und siech der Geist.“

Wie aber mit einer solchen Situation umgehen? Wie sich angesichts der unbestreitbaren Tatsache der universellen Vergänglichkeit verhalten? Den generellen Rat des Buddha haben wir ja schon gehört: „Daher sollst du dich darin üben: ‚Mag auch der Körper siech sein, der Geist soll mir nicht siech werden!“

In einer Hinsicht ist nichts zu machen: den Fluss der Zeit kann niemand aufhalten, die Flucht der Erscheinungen niemand stoppen.

Unser Körper demonstriert das auf eine Weise, die keinen Zweifel übrig lässt. Geborenwerden, Altern und Sterben zeigen das Gesetz alles Gewordenen. Materielle Dinge kommen, wandeln sich und gehen. Seelisches und Geistiges nicht minder. Aber unsere Einstellung, unsere innere Haltung dazu kann sehr unterschiedlich sein.

Sie beginnt sich zu ändern, wenn es uns gelingt, das Leben vorbehaltlos und realistisch zu sehen. Meist bedarf es dazu eines deutlichen Anstoßes. So wie ihn Nakulapitā durch den erfahrenen Sāriputta erhält. Jetzt kann er selber hinschauen, sich mit der Zeit selber überzeugen und die richtigen Konsequenzen ziehen.

„Gealtert bin ich, o Herr, bejahrt und hochbetagt. Schwach und empfindlich ist mein Körper geworden, beständig krank.“ Diese Worte haben wir eingangs schon gehört. Sie gelten nach wie vor, aber der alte Mann kann von nun an mit diesen Lebenstatsachen anders zurechtkommen. Sie sind ihm weniger bedrohlich und bedrückend, wenn er die Blickweise ändert. Wenn er sich klar macht: ‚Dieser Körper gehört mir gar nicht, er hat mir auch nie gehört. Er ist aus denselben Bestandteilen zusammengesetzt wie die unbelebten Dinge der Natur. Von dort stammen sie, und dahin kehren sie zurück. Und wenn ich zu diesem Körper nie mit Recht ‚mein‘ sagen kann, wie könnte ich dann sogar zu ihm ‚Ich‘ sagen?‘

Sāriputta, der mit seinem umfassenden Erkenntnisblick dem Buddha am ehesten glich, konnte alles Weltliche in seiner Fragilität und Unzulänglichkeit durchschauen. Für ihn galt daher bei allen Erscheinungen uneingeschränkt: ‚Das gehört mir nicht; das bin ich nicht, das ist für mich kein__ Selbst.‘ Weil er sich mit nichts mehr identifizierte und von nichts etwas für sich erwartete, war er völlig frei geworden. Er war ein Heilgewordener, dem die Vergänglichkeit von Körperlichem und Geistigem nichts mehr anhaben konnte. Ihm waren wohl die Bestandteile seiner Person siech, nicht aber sein Geist.

Sein Gesprächspartner Nakulapitā hat sicher bis dahin noch einen sehr weiten Weg vor sich. Auch wenn er die Richtigkeit des Gehörten anerkennt. Aber er weiß um den Unterschied, eine tiefe Wahrheit ganz zu verstehen oder sie ganz zu verwirklichen. Ihm ist jedenfalls klar: Ausnahmslos alles Weltliche ist brüchig und unzuverlässig: Aber er sieht zugleich, dass sein Herz noch an so vielem hängt, es noch lange nicht alles Liebgewordene loslassen kann. Er würde sich maßlos überfordern, wollte er heute schon wie ein Heilgewordener und völlig Befreiter empfinden und handeln. Doch er kennt die Richtung, die er unbeirrt im Auge behalten und die er seinen Kräften gemäß ansteuern wird.

Wir verabschieden uns mit dem Gruß: Mögen alle Wesen glücklich sein und Frieden finden.

Nach einem Vortrag in NDR Info: Aus der Sendereihe Religionsgemeinschaften - Buddhisten, am Sonntag, 14.07.2019, 7.15 Uhr bis 7.30 Uhr – gelesen von Kornelia Paltins


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