Zeitschriftenartikel

Die beiden Artisten oder beide Seiten im Blick

Alfred Weil

Bisher war immer alles gut gegangen. Die beiden Artisten – der Meister und seine Mitarbeiterin – zogen durch die Dörfer Indiens und zeigten ihre Kunstfertigkeit. Dabei benutzten sie lediglich eine große Bambusstange, die sie mit Geschick und Kraft zu handhaben wussten. Der Meister stellte sie sich auf seine Schulter, und die junge Frau kletterte an ihr empor, um in luftiger Höhe ihre Kunststücke zu zeigen. Reich werden konnten sie damit nicht, aber ihr Auskommen war gesichert und sie fanden Freude an ihrer Tätigkeit.
Eines Tages entspann sich zwischen beiden ein nachdenkliches Gespräch. Ihnen wurde wieder einmal bewusst, dass ihr Beruf nicht ungefährlich war und sie auf der Hut sein mussten, um nicht zu verunglücken. Wie mussten sie sich eigentlich verhalten, damit nichts passieren konnte? So viel war beiden ohne Überlegen klar: dass sie nur gemeinsam ihre Aufgaben bewältigen und gesund und unverletzt bleiben konnten.

Ohne Rücksicht auf den anderen ging es nicht, jeder musste das Ganze im Auge behalten. Aber wer hatte dabei welche Rolle zu spielen, wer auf wen und auf was zu achten?
Der Meister hatte zuerst eine Idee: „Am besten ist es, wenn du auf mich achtest und ich auf dich. Dann kann nichts schiefgehen.“ Die junge Frau zweifelte indessen und erwiderte: „So wird daraus nichts, Meister. Passe du lieber auf dich auf, und ich auf mich. Dann sind und bleiben wir ein gutes und erfolgreiches Team.“

Wir wissen nicht, zu welchem Ergebnis die beiden Akrobaten gekommen sind. Jedenfalls nimmt der Buddha diese Begebenheit zum Anlass, um im Gespräch mit seinen Zuhörern ein wichtiges Thema zu behandeln. Es geht natürlich darum, wie ein gedeihliches menschliches Zusammenleben aussieht und worauf es beruht.

Gar nicht erst in Erwägung zieht der Buddha die immer moderner werdende Weise, dass jeder allein seinen Vorteil sucht und dem anderen gegenüber gleichgültig ist. Völlige Rücksichtslosigkeit und Egozentriertheit bringen allenfalls einen kurzen Scheingewinn. Aber wie sieht eine gewinnbringende Gegenseitigkeit aus? Wo muss der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit und des Einsatzes liegen? In der eigenen Vervollkommnung oder in der Hinwendung an das Du? Tatsächlich ist schon die Frage falsch gestellt, weil sie von einem Entweder-oder ausgeht, das es so in Wirklichkeit nicht gibt. Das macht der Buddha mit einem erhellenden Satz deutlich: „Auf sich selber achtend, achtet man auf die anderen. Auf die anderen achtend, achtet man auf sich selber.“

Nur das Zusammenspiel beider Momente zeigt die erwünschten Ergebnisse, so viel verstehen wir sofort. Aber noch ist diese Aussage zu allgemein und nicht anschaulich genug. Zumal es bei den Belehrungen des Erwachten nicht allein um soziale Verhaltensweisen geht, sondern auch um tiefer reichende religiöse Fragen.

Beginnen wir mit der Empfehlung: „auf sich selber zu achten“. In Zeiten zunehmender sozialer Kälte und spiritueller Heimatlosigkeit kann man das leicht missverstehen. Man könnte meinen, es komme darauf an, die eigenen Interessen besonders in den Blick zu nehmen und nur für ihre Befriedigung zu sorgen. Sollte das nicht auf unbedenkliche Weise möglich sein, dann eben ohne hinderliche Rücksichten und am Ende sogar gewaltsam.

Jedem human eingestellten oder religiös empfindenden Menschen sind solche Gedanken fremd. Für ihn bedeutet „auf sich selber zu achten“ vielmehr die erforderliche Aufgabe beständiger Selbsterziehung. Niemand kann nämlich mit Recht von sich behaupten, ohne charakterliche Schwächen, ohne Wissenslücken und ohne Mängel im alltäglichen Verhalten zu sein. Was also steht da auf dem Programm?

Ich möchte mit dem Bereich des ethischen Verhaltens beginnen, weil er unserem Verständnis am nächsten ist und eine unmittelbar praktische Rolle spielt. Buddhistin oder Buddhist zu sein heißt hier, so gut es geht fünf grundlegende Regeln zu beachten: Leben zu schonen, auch die der Tiere – sich nichts ungerechtfertigt anzueignen – sexuelles Fehlverhalten zu vermeiden – nicht zu lügen und auf den Gebrauch von Alkohol und anderen berauschenden Mitteln zu verzichten. „Auf sich selbst achten“ meint genauer: Ich lasse mich nicht zu entsprechenden Handlungen hinreißen und nähre auch entsprechende Wünsche und Absichten nicht. Ich setze meinem Wollen und Tun diese Grenzen und bemühe mich, sie nicht zu überschreiten.

Warum das ratsam ist, haben tiefer Blickende immer schon gesehen. Moralische Standards zu beachten heißt gerade, sich selbst zu schützen und für das eigene Wohlergehen zu sorgen. Wer sich aus Überzeugung nach ethischen Maßstäben richtet, vermeidet zahllose belastende Konflikte und lebt in größerer zwischenmenschlicher Harmonie. Er ist zudem mit sich selbst im Reinen, Gewissensbisse, Selbstvorwürfe und unterschwellige Schuldgefühle verdüstern sein Leben nicht wie die Schatten hoher Berge, die am Abend über die Ebene ziehen. Dieser bildhafte Vergleich des Buddha veranschaulicht die kaum zu überschätzende innere Entlastung, die mit menschlicher Anständigkeit einhergeht.

Eine solche Haltung ist andererseits erkennbar nicht egoistisch, ganz im Gegenteil. In der buddhistischen Tradition werden die genannten fünf ethischen Grundregeln als „große Gaben“ bezeichnet. Wenn ich sie einhalte, schenke ich meinen Mitmenschen und den Tieren nämlich eine fünffache Sicherheit: Er bzw. es muss im Umgang mit mir nicht um sein Leben und seine Gesundheit fürchten. Sein Besitz ist durch mich nicht in Gefahr, seine eheliche oder partnerschaftliche Beziehung unbedroht. Von mir wird er nicht belogen oder hintergangen. Und wenn ich mich nicht berausche, erspare ich meiner Umgebung manche unschöne Szene.
So gesehen stimmt es also tatsächlich: „Wer auf sich achtet, achtet auf den anderen.“

Aber freilich gilt genauso der zweite Satz: „Wer auf den anderen achtet, achtet auf sich selbst.“ Er ist besonders für den gesprochen, der es gewohnt ist, eher nach den Bedürfnissen und Wünschen seiner Mitwelt zu schauen. Wer eher weltzugewandt lebt, sich sozial und gesellschaftlich engagiert, wird den Fokus seiner Aufmerksamkeit nicht so sehr auf die eigene Person richten. Er wird sich darum kümmern, dass es der eigenen Familie gut geht; dass alle das Nötige haben und sich wohl fühlen. Er wird ein Auge auf die Kümmernisse und Nöte seiner näheren Umgebung werfen und seinen Teil tun, ihnen abzuhelfen. Im Rahmen seiner Möglichkeiten wird er sich auch in einem noch weiteren Rahmen einsetzen.

Doch auch als altruistischer Mensch brauche ich ein stabiles Fundament für meine hilfreichen Bemühungen: Ich muss in vielerlei Hinsicht ebenso auf mich Acht haben und die Umstände meines Tuns im Blick behalten. Fühle ich mich in die Situation des anderen wirklich ein und weiß ich tatsächlich, was er braucht? Sind die Motive meines Engagements wirklich selbstlos oder schwingen vielleicht der Wunsch nach Beachtung, Ehrgeiz oder ein unbewusster Aktionsdrang mit? Kann ich denn die mir gesetzte Aufgabe tatsächlich erfüllen? Überfordere ich mich auf Dauer, weil ich meine Grenzen nicht kenne oder nicht nein sagen kann?

Der Buddha sagt: Wer selbst im Sumpf versunken ist, kann einem anderen in der gleichen Gefahr nicht helfen. Er muss erst festen Boden unter den Füßen haben. Und je größere Aufgaben er sich vornehmen will, umso mehr muss er sich fit für sie machen. Er muss seinen Horizont erweitern, seine Kenntnisse vertiefen, Fähigkeiten hinzugewinnen und sicher auch die eine oder andere persönliche Schwäche überwinden. Wenn alles stimmt, bewahrheitet sich auch hier die Regel: den anderen beschützend, beschütze ich mich selbst. Ich wachse mit den Aufgaben und der Fürsorge für die kleinere oder größere Gemeinschaft, in der ich wirke.

In dem schon erwähnten Gespräch lenkt der Buddha die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer vor allem auf zwei besondere Bereiche, in denen es für jeden noch genügend zu lernen und zu üben gibt. Als großer Weisheitslehrer kennt er die menschlichen Unzulänglichkeiten und weiß, wie Abhilfe zu schaffen ist. Wer verfügt wirklich über ausreichende Geduld im Umgang mit seinem Nächsten? Wie lange bringen wir Nachsicht und Langmut auf, wenn etwas nicht nach unseren Wünschen verläuft oder zu lange dauert? Mitwesen nicht zu verletzen oder ihnen zu schaden, ist für viele eine wichtige Lebensmaxime. Die Frage ist nur, wie konsequent wir diesen Vorsatz durchhalten – auch in heiklen Situationen. Wohlwollen und Mitempfinden zu jeder Gelegenheit mögen uns Ideale sein, gehen aber in den stürmischen Wellen des Alltags oft genug unter.

Wer sich vornimmt, positiven Eigenschaften und Verhaltensweisen mehr Raum zu geben, erweist anderen einen unschätzbaren Dienst. Er bewahrt sie unmittelbar vor Schaden, vor Streitereien, vor körperlicher und seelischer Beeinträchtigung. Und gehört ebenfalls zu den Gewinnern, weil er damit Ruhe und innere Ausgeglichenheit für sich bewahrt.

Inzwischen können wir nachvollziehen, dass jemand keineswegs egoistisch sein muss, der ein eher zurückgezogenes und meditatives Leben führt. So ist die Übung der Achtsamkeit eine spirituelle Praxis, die von dem Buddha sehr gepriesen wird. Sie besteht in der stillen Selbstbeobachtung aller körperlichen und geistigen Vorgänge und in der Besonnenheit bei jedem Tun und Lassen. Von außen betrachtet mag das leicht als weltvergessene Nabelschau erscheinen, aber Meditation ist kein Selbstzweck: Sie ist ein weitgehend vergessenes Instrument der Selbsterforschung und Selbsterziehung. Sie zielt auf die Klärung und Reinigung von Herz und Geist des Menschen und verändert damit sein Verhalten zum Besseren. Wer Achtsamkeit übt, hilft sich selbst, weil er seine unguten Eigenschaften entdeckt und sie ungefährlich machen kann. Und er schützt seine Umgebung vor ihren unheilvollen Folgen.

Alles in allem kommt es also nicht so sehr darauf an, ob wir eher introvertiert oder extrovertiert sind; ob wir uns eher mit uns selbst oder mit anderen beschäftigen. Das ist eine Frage des Temperaments oder der persönlichen Vorlieben und bleibt jedem Einzelnen überlassen. Entscheidend ist, ob unsere Motive und Verhaltensweisen selbstbezogen sind oder gleichermaßen den Nächsten wohlwollend mit im Blick haben.

Wir verabschieden uns mit dem Gruß: Mögen alle Wesen glücklich sein und Frieden finden.



Nach einem Vortrag in NDR Info: Aus der Sendereihe Religionsgemeinschaften - Buddhisten, am Sonntag, 12.07.2020, 7.15 Uhr bis 7.30 Uhr – gelesen von Kornelia Paltins


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