Zeitschriftenartikel

Die Hausfrau Vedehika

Alfred Weil

In der ganzen Stadt genoss sie einen ausgezeichneten Ruf. Man sprach nur positiv über sie: ‚Sanft ist die Hausfrau Vedehika, mild ist die Hausfrau Vedehika, friedfertig ist die Hausfrau Vedehika‘! Es war also gut mit ihr auszukommen. Das dachte auch ihre langjährige und getreue Magd Kali, die sich über ihre Chefin bisher nicht beklagen konnte.

Doch wie es so ist. Eines Tages keimte ein Gedanke in ihr auf, den sie nicht wieder loswerden konnte. ‚Sanft, mild und friedfertig ist die Hausfrau Vedehika‘, heißt es. Ob sie wohl keinerlei Ärger und Unwillen kennt – oder ob sie diese nur nicht zeigt? Ob ihr wohl nie die Galle aufsteigt – oder ob sie sich nur gut beherrschen kann? Vielleicht verrichte ich auch die mir aufgetragenen Arbeiten einfach so gut, dass gar kein Anlass zu Groll und Missmut besteht‘?

Immer wieder kreisten diesen Fragen im Kopf der Magd, bis sie sich endlich entschloss: ‚Ich werde die Herrin des Hauses auf die Probe stellen‘. Schon am nächsten Tag fing sie damit an. Sie stand einfach nicht wie gewohnt früh morgens auf, sondern erst, als die Sonne längst aufgegangen war.

„He da, Kali!“’ – „Was ist, Gnädige?“ – „Warum stehst du erst bei helllichtem Tage auf?’ – „Das macht doch nichts, Gnädige!“ – „Mir macht es schon etwas aus, du schlechte Magd, dass du so spät aus den Federn kommst!“, sagte die Hausfrau verstimmt und runzelte die Brauen.

Kali sah sich in ihrem Verdacht bestätigt: ‚Vedehika kennt sehr wohl Ärger und Unmut, sie zeigt sie nur nicht, weil ich ihr bisher keinen Grund dafür liefere. Ich will einmal sehen, was sich daraus noch ergibt; ich werde sie weiter provozieren´. Und am nächsten Morgen erschien sie noch später zum Dienst.

„He da, Kali!“ – „Was ist, Gnädige?“ – „Warum stehst du erst bei helllichtem Tage auf?’ – „Das macht doch nichts, Gnädige!“ – „Mir macht es schon etwas aus, du schlechte Magd, dass du so spät aus den Federn kommst!“, sagte die Hausfrau und ließ ihrem Zorn mit weiteren unschönen Worten seinen Lauf. Es wurde eine richtige Schimpfkanonade daraus.

Welche Wirkung diese verbale Attacke auf ihr Opfer hatte, können wir uns gut vorstellen. Recht deutlich war ihr der wahre Charakter von Vedehika vor Augen getreten. Umso mehr fühlte sich die Magd geneigt, das Ganze auf die Spitze zu treiben. Wir wissen, auf welche Weise.

Erwartungsgemäß eskalierte die Auseinandersetzung. Am Ende flog ein Türriegel durch die Luft und verletzte Kali am Kopf. Blut floss, und in diesem Zustand lief die Misshandelte schreiend und klagend auf die Straße: „Seht, Leute, das Werk der Sanften; seht, Leute, das Werk der Milden; seht, Leute, das Werk der Friedfertigen. So geht es wirklich zu in diesem Haus!“ Der gute Ruf der sanften Vedehika war freilich ruiniert.

Diese Geschichte, die der Buddha vor rund 2500 Jahren erzählte, ist heute noch ebenso aktuell wie aufschlussreich. Sie zeigt eine menschliche Eigenschaft, die wohl keinem fremd sein dürfte. Handelt sie doch von Gefühlen und Emotionen, die nicht selten in uns aufsteigen und uns zu den verschiedensten Reaktionen veranlassen können. Gereiztheit, Ärger, Zorn und Wut sind nur einige Namen für diese Gemütsbewegungen.

Unsere Geschichte zeigt recht eindrucksvoll, was es mit ihnen auf sich hat. So kommt Missgestimmtsein nicht ohne Grund auf. Es braucht einen geeigneten Anlass: einfach gesagt, dass wir einem Menschen begegnen oder in eine Situation geraten, die unseren Anliegen und Wünschen nicht passen. Wir suchen Ruhe und sind plötzlichem Lärm ausgesetzt. Wir haben es eilig, aber alle Ampeln sind rot: Wir haben eine dringende Verabredung, aber wir werden versetzt.

Wenn immer etwas unseren Willen durchkreuzt, ruft das unwillkürlich Ablehnung hervor. Je stärker die Anliegen sind und je plötzlicher und heftiger ihnen etwas in die Quere kommt und so deren Erfüllung unmöglich macht, umso leidenschaftlicher wird die Reaktion ausfallen. Daher reicht die Bandbreite von einem ärgerlichen Gedanken über ein leichtes Stirnrunzeln und ein lautes Wort bis zur Entladung in zerstörerischen Gewaltakten. Was als geistige Missbilligung beginnt, äußert sich später in unserer Sprache und mündet vielleicht sogar in groben körperlichen Aktionen.

Freilich verfügen die meisten Menschen über ein bestimmtes Maß an Selbstkontrolle. Dem spontan, negativen Gefühl ist jeder ausgeliefert, doch ob es auch verbal oder gar in rabiaten Handlungen zum Ausdruck kommt, steht auf einem anderen Blatt. Wer sich darin geübt hat, kann durchaus folgenschwere ungute Reaktionen vermeiden. Je unerwarteter und ungestümer Gegenwind aufkommt und je länger er anhält, umso schwieriger ist es freilich, sich im Griff zu haben. Bei schönem Wetter ist es leicht freundlich und ruhig zu sein – aber bei Sturm und Regen? Daher ist es auch nicht immer einfach, seine Mitmenschen und sich selbst richtig einzuschätzen. Vedehika und ihre Magd Kali zeigen das.

Die Berechtigung von Ärger und Zorn wird unterschiedlich beurteilt. Viele Menschen fühlen sich bei gegebenem Anlass tatsächlich im Recht dazu. Ist mir etwas Unangenehmes oder ein vermeintliches Unrecht widerfahren, sind Gereiztheit und Aufbrausen doch wohl die angemessene Antwort, meinen sie. ‚Mein Gegenüber muss doch wissen, dass er sich gerade daneben benommen und mich getroffen hat.‘ Gelegentlich ist sogar von einem gerechten Zorn die Rede. Der Buddha hat all dem entschieden widersprochen: Ärger und Zorn sind nie gerechtfertigt – und vor allem erreichen sie am Ende nie ihren Zweck. Er sagte einmal: „Zornig zu reagieren ist wie glühende Kohlen in die Hand zu nehmen und sie nach anderen zu werfen.“ Ob man den Betreffenden trifft, ist nicht einmal sicher. Auf jeden Fall aber verbrennt man sich selbst die Hände.

Worte und Taten aus Aversion richten stets Schaden an. Der so Angegangene fühlt sich seinerseits getroffen. Schnell ist er dabei, das Erlebte auf ähnliche oder in noch gesteigerter Form zurückzugeben. Das Beispiel von Vedehika vermittelt, wie offene Gereiztheit, aber auch Groll, gute zwischenmenschliche Beziehungen beschädigen oder am Ende gar ruinieren können. Nicht zuletzt erleidet das eigene Ansehen Schaden. Von sich aus hört ein derartiges Zerwürfnis nie auf. Auch wenn die sichtbaren Flammen zeitweise verschwinden, der unbereinigte Konflikt glimmt unter der Oberfläche weiter.

Der Ärgerliche schadet sich selbst auch unmittelbar, wenn er seine negativen Emotionen zulässt. Wer zornig ist, kann und wird sich zu dieser Zeit nicht wohl fühlen. Er steht zu sehr unter Hochspannung, ist getrieben. Innerlich kocht er oder er hat – wie es der Buddha ausdrückt – glühende Kohlen in der Hand, die ihn versengen. Genug Gründe eigentlich, um von diesem ebenso sinnlosen wie schmerzlichen Antrieb frei zu werden oder ihn wenigstens zu mindern.

Freilich reicht dazu ein heroischer Entschluss wie: ‚Ab morgen werde ich nie mehr…!‘ nicht aus. Zu stark sind meist die gewohnten Reaktionsmuster, die uns die glühenden Kohlen immer wieder wie von selbst in die Hand nehmen oder doch wenigstens an sie denken lassen. Gewohnheiten können nur langsam und mit Geduld aufgelöst werden. Beharrliches Üben ist angesagt.

Es beginnt damit, sich die Nutzlosigkeit, Unwürdigkeit und Schädlichkeit solcher Geisteshaltungen realistisch vor Augen zu führen. Gegenüber der momentan gefühlten Entlastung bei einem Zornausbruch überwiegen die Nachteile bei weitem. Und unsere legitimen Interessen können wir ohne Abstriche auch anders verfolgen. Kritisches lässt sich auch ohne Begleitung von Aversion und Groll vorbringen – unter dem Strich sogar mit größerem Erfolg.

Nehmen wir einmal an, wir sehen uns unangenehmen Redeweisen ausgesetzt. Was tun? Der Buddha empfiehlt seinen Mönchen eine Haltung, die uns ein Vorbild sein könnte: ‚Nicht soll unser Gemüt verstört werden, kein böser Laut unserem Munde entfahren, freundlich und mitempfindend wollen wir bleiben, liebevollen Gemütes, ohne heimlichen Groll; und jene Person werden wir mit liebevollem Gemüte durchstrahlen…‘

Das ist ein sehr hoher Anspruch, der sicher nicht sofort und ohne Abstriche erfüllt werden kann. Aber üben heißt ja, sich einem gesetzten Ziel oder Ideal schrittweise und nach seinem besten Vermögen zu nähern. Und nicht enttäuscht zu resignieren, wenn die wilden Pferde wieder einmal durchgegangen sind. Weitermachen ist die Devise.

Dabei mögen uns einige Gleichnisse des Erwachten helfen, die wahre Souveränität und Größe veranschaulichen. Wie würde etwa die mächtige Erde reagieren, käme da jemand mit Schippe und Eimer des Weges und würde lauthals verkünden: „Ich will diese Erde erdlos machen!“ Er könnte graben und schaufeln, hacken und wühlen nach Belieben. Die Erde bliebe davon völlig unberührt. Und wenn uns jemand beschimpft oder beleidigt – können wir denn nicht versuchen, dem nachzutun? Indem wir unirritiert bleiben oder wenigstens nicht missmutig erwidern?

Oder stellen wir uns einen Fantasten mit der fixen Idee vor, den Himmel mit den buntesten und grellsten Farben zu bemalen. Würde der Himmel bei diesem Ansinnen einen Schrecken bekommen, sich ärgern oder sich Sorgen um sein strahlendes Blau machen? Wohl kaum. Solche Nichtigkeiten können ihn gar nicht tangieren.

Vielleicht finden wir die folgende Metapher noch treffender: Da versucht jemand, mit einem brennenden Strohbündel den Ganges auszutrocknen. Man kann leicht vorhersagen, welchen Erfolg sein Bemühen haben wird: keinen. Der mächtige Strom wird seine Wassermassen unbekümmert weiter ins Meer tragen. Und wer ein dem Ganges gleichendes Gemüt besitzt, den tangieren unwillkommene Redeweisen oder Erlebnisse nicht. Er wird Gleichmut bewahren.

Allerdings bedeutet Gleichmut nicht Gleichgültigkeit. Wohl sollen wir uns gemäß dem Rat des Buddhas von einem unverschämten Zeitgenossen nicht aus der Ruhe bringen lassen und schon gar nicht mit gleicher Münze zurückzahlen. Die Empfehlung des Erwachten reicht aber noch viel weiter: „‚Jene Person werden wir mit liebevollem Gemüte durchstrahlen; von ihr ausgehend werden wir dann die ganze Welt mit liebevollem Gemüte, mit weitem, tiefem, unbeschränktem, von Grimm und Groll geklärtem, durchstrahlen.’ Also habt ihr euch, meine Mönche, wohl zu üben.“

Wir verabschieden uns mit dem Gruß: Mögen alle Wesen glücklich sein und Frieden finden.

Nach einem Vortrag in NDR Info: Aus der Sendereihe Religionsgemeinschaften - Buddhisten, am Sonntag, 12.01.2020, 7.15 Uhr bis 7.30 Uhr – gelesen von Kornelia Paltins


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