Zeitschriftenartikel

Die Schildkröte, die ihren Mund nicht halten konnte

Alfred Weil

In längst vergangener Zeit, als König Brahmadatta in Benares regierte, wurde der künftige Buddha in einer Ministerfamilie wiedergeboren. Als er herangewachsen war, wurde er Ratgeber am Hof. König Brahmadatta aber hatte eine dumme Angewohnheit: Er redete ohne Punkt und Komma. Der werdende Buddha zerbrach sich deshalb immer wieder den Kopf und suchte nach einem geeigneten Mittel, um ihn von seiner Vielrederei abzubringen.

Zu dieser Zeit wohnte in einem Teich im Himalaya eine Schildkröte. Zwei junge Schwäne, die sich in dieser Gegend gewöhnlich ihr Futter suchten, schlossen Freundschaft mit ihr. Eines Tages machten sie ihr einen Vorschlag: „Liebe Schildkröte, unser Wohnort auf dem Cittakuta-Berg in der Goldhöhle ist ein ganz reizender Fleck. Willst du nicht einmal mit uns kommen und dir unsere Heimat ansehen?“ Die Schildkröte erwiderte: „Das würde ich ja gerne tun, aber wie soll ich denn das anstellen?“ Darauf antworteten die beiden Schwäne: „Wir wollen dich mitnehmen, wenn du deinen Mund geschlossen halten kannst und unterwegs zu niemand etwas sagst.“ „Verlasst euch auf mich, ich werde kein Sterbenswörtchen verlauten lassen und den Mund nicht aufmachen.“ Jene sagten „gut“ und ließen die Schildkröte fest in einen Stock beißen. Sie selbst packten die beiden Enden des Stockes mit ihren Schnäbeln und schwuppdiwupp erhoben sie sich in die Luft und flogen weit davon. Die Hauptstadt des Landes lag bald vor ihnen.

Die ungewöhnliche Szene sahen nun einige Dorfjungen, die gerade auf der Straße spielten: „Ei, was ist denn das? Da tragen ja zwei Schwäne eine Schildkröte durch die Luft“, riefen sie verdutzt aus. „Was geht euch das an, wenn mich meine Freunde mitnehmen, ihr Lausebengel?“, kommentierte die Schildkröte ärgerlich. „Kümmert euch gefälligst um eure eigenen Sachen.“ Und gerade als die Schwäne mit großer Geschwindigkeit über den Königspalast dahinflogen, hatte sie den Stock unversehens losgelassen. Krachend fiel sie mitten auf den Hof und zerbrach in zwei Stücke.

Ein großes Geschrei entstand: „Kommt herbei und seht euch das an. Eine Schildkröte ist vom Himmel gefallen und entzweigebrochen.“ Sofort begab sich der König umgeben von seinen Ministern an den Ort des Geschehens. Staunend betrachtete er die Schildkröte und fragte seinen Berater: „Weiser, was ist geschehen? Was hat sie wohl getan, dass ihr das passiert ist?“ Der künftige Buddha dachte bei sich: Schon lange warte ich auf eine günstige Gelegenheit, um dem König eine Lektion zu erteilen, jetzt ist es soweit: „Diese Schildkröte war sicher mit den beiden Schwänen dort befreundet, und die wollten sie einmal zu sich nachhause mitnehmen. Deshalb ließen sie ihre Freundin in einen Stock beißen, um mit ihr auf diese Weise durch die Luft zu fliegen. Als die Schildkröte dann eine Stimme hörte und unbedingt antworten wollte, gab sie nicht auf ihren Mund Acht und ließ den Stecken los. Deshalb ist sie herabgefallen und jämmerlich ums Leben gekommen.“ Und er fügte hinzu: „Ja, mein König, wer allzu geschwätzig ist und seinen Mund nicht halten kann, stürzt ins Unglück.“

Der König merkte sehr wohl, dass das auf ihn zielte und sagte: „Du meinst doch mich damit, Weiser!?“ Worauf dieser erwiderte: „Mein König, ob nun du es bist oder irgendein anderer: Wer das rechte Maß beim Reden überschreitet, rennt in sein Verderben.“ Der König aber hielt sich von da ab zurück und gewöhnte sich daran, viel weniger und vor allem mit mehr Bedacht zu reden.
Wie viele Geschichten ist auch diese sehr pointiert und weist umso eindringlicher auf eine verbreitete Schwäche des Menschen hin: auf seinen Hang zum Reden. Sprache ist eine kaum zu überschätzende menschliche Errungenschaft, und in unserer Parabel sind es gerade Tiere, die auf einen sorgsamen Umgang mit dieser Fähigkeit hinweisen.

Aus buddhistischer Perspektive gibt es vier Möglichkeiten, Sprache unangemessen zu gebrauchen. Dass sich Lügen in der zwischenmenschlichen Begegnung verbieten, ist in ethisch anspruchsvolleren Kreisen weitgehend Konsens. Auch Worte, die Menschen einander entfremden oder Zwietracht säen, gelten als tabu. Ebenso harte, beleidigende, unhöfliche oder verletzende Worte.

Bleibt die vierte Art inakzeptabler Rede, die uns die Geschichte mit der Schildkröte näherbringen will. Nennen wir sie dummes Gerede, Geschwafel, Geschwätz, Klatsch oder wie auch immer. In jedem Fall handelt es sich um einen oft nicht endenden Wortschwall aus spontanen inneren Eingebungen heraus. Es handelt sich um Reden um des Redens willen. Wer kennt nicht die Alltagsgewohnheit vieler Menschen, sich regelmäßig zu treffen, um endlich wieder einmal so richtig zu plaudern. Oberflächlichkeit ist ein Wesenszug dieser Sprache, sie ist belanglos und kommt ohne rechte Inhalte aus. In einer tieferen Hinsicht ist sie ziel- und zwecklos und daher auch ohne klaren Verlauf und ohne gesundes Maß. Bezüge zu tieferen Wahrheiten sind nicht gefragt.

Es scheint, dass die bevorzugten Themen zeitlos sind. Jedenfalls liest sich die folgende, über 2.500 Jahre alte Aufzählung des Buddha nicht nur wie ein antikes Dokument. Wir erkennen den modernen Menschen mit seinen heutigen Anliegen in etwas anderen Worten durchaus wieder, denn wie oft führt auch er

Gespräche über Könige und Räuber, Minister und Heere, Gefahr und Krieg, Essen und Trinken, Kleider und Lagerstatt, Blumen und Düfte, Verwandte und Wagen, Dörfer und Marktflecken, Städte und Länder, Weiber und Helden; Straßen- und Brunnengespräche, Gespräche über früher Verstorbene, Klatschereien, Erzählungen über die Welt und das Meer, Gewinn und Verlust.“ (A 10,69)

Politik und Zeitgeschehen mit ihren prägenden Gestalten gehören zu solchen Stammtischgesprächen. Sensationen und gefährliche Ereignisse, Interessantes über Land und Leute wird ebenso gerne kommentiert wie über sinnliche Genüsse und vor allem wird gerne über andere Personen gesprochen. Erinnerungen an die Vergangenheit und Spekulation über Künftiges dürfen ebenfalls nicht fehlen.
Allerdings sollte die Anregung, von leerem Gerede Abstand zu nehmen, nicht falsch verstanden werden. Sie bedeutet nicht, dass zu einem sinnvollen Gespräch stets nur Hochphilosophisches gehört. Nicht immer sind die tiefsten existenziellen Fragen angesagt. Im Alltag kann oft auch „Belangloses“ von Belang sein. „Wie geht es dir?“ und „Was macht XY?“ mögen oft leere Floskeln sein. Aber Fragen nach dem Befinden anderer Menschen und nach deren Sorgen und Anliegen können durchaus ernsthaft gemeint sein und haben ihre volle Berechtigung.

Wer sich über einfache Alltagsdinge austauscht, tut ebenfalls nichts Verkehrtes. Wie oft bekomme ich von meinem Nachbarn eine Information, die mir hilft, ein praktisches Problem zu lösen. Oder ich selbst gebe einen nützlichen Hinweis, kann einen Rat geben oder in schwierigen Zeiten Trost spenden. Sprechen ist dann eben nicht sinnlos, auch wenn es nicht um weltbewegende Dinge geht.

Indessen zeigt sich unnötiges Gerede heutzutage in früher unvorstellbaren Dimensionen und Erscheinungsformen. Vielfach sind die technischen Errungenschaften – ihrer hilfreichen Potenziale beraubt – zu einer Vervielfältigungsmaschinerie von Sinnlosem und Unsinnigem verkommen. In Zeiten massenhafter Telekommunikation habe ich die Chance, weltweit und zu jeder Zeit die Menschheit mit meinen momentanen Einfällen und Launen zu beglücken. Mündlich und schriftlich. Im Vergleich zu der Welt der Ochsenkarren in Indien zu Zeiten des Buddha bietet die digitalisierte Welt Knowhow und Technik. Alles per Knopfdruck und potenziell an Tausende Personen zugleich.

Die Frage ist, welche Folgen sich aus sprachlicher Flachheit ergeben, wenn sie in unserem Leben eine immer dominierendere Rolle spielt? Um es einfach auszudrücken: Schwätzen bedeutet, den Geist auf einem bestimmten Niveau ohne intellektuellen und moralischen Tiefgang oder weitergehende Perspektiven zu beschäftigen. Gewohnheitsmäßig und mit innerer Beteiligung einfach nur daherzureden heißt, seinen Geist dort festzunageln und ihm keinerlei Spielraum für Höheres zu lassen. Er bleibt vorwiegend mit Dingen befasst, die vor Augen liegen und den aktuellen weltlichen Interessen und Impulsen entspringen. Wer ihnen im Reden unkontrolliert folgt, bestätigt sie oder mehrt sie. Weitergehende Sichtweisen werden ausgeblendet, religiöse Anliegen bleiben unberücksichtigt oder können sich nicht entfalten. Existentielle Frage stellen sich irgendwann nicht mehr.

Ein solcher kann auch seinen Mitmenschen keine wirkliche Hilfe sein. Er lenkt ihre Aufmerksamkeit ebenfalls eher auf Weltlich-Banales und bombardiert sie mit Trivialitäten. Er nimmt ihnen und sich selbst die Chance für inneres Wachstum. Warum? Weil er die schöpferische Kraft der Sprache und ihr befreiendes Potenzial weder kennt noch beachtet.
Ein Brahmane hatte seinen Weg zu dem Buddha gefunden und ihn mit einer seiner Thesen konfrontiert: „Solange ich über das rede, was ich selbst erlebt habe“, meinte er, „kann ich doch wohl nichts falsch machen.“

Auf den ersten Blick möchte man dem gerne zustimmen, und doch erfüllt dieser Grundsatz nur einen von drei Kriterien, die der Buddha in Betracht zieht. Der Wahrheitsgehalt einer Aussage ist immer zu beachten, so viel ist richtig. Aber ebenso sollten Zeit und Umstände passen, unter denen man etwas sagen möchte. Die wichtigste Frage ist aber: Welche Folgen sich aus einem Gespräch ergeben?
Der Erwachte tadelt den Brahmanen nicht, aber er nennt ihm einen besseren Maßstab. Wenn man spricht und dabei feststellt, dass die unguten Dinge zu- und die guten abnehmen, sollte man tunlichst schweigen. Reden ist dagegen angebracht, wenn sich die Dinge zum Besseren wenden und Unheilsames schwindet. Wenn man sich nach einer Unterhaltung inspiriert und darin bestärkt fühlt, großzügig zu sein und ein anständiger und mitfühlender Mensch zu sein, hat sich der Austausch gelohnt. (A 4,183)

Reden ist eben kein Selbstzweck oder bloßer Zeitvertreib. Sprache hat eine dienende Funktion und sollte einen nachvollziehbaren Nutzen haben – für beide Seiten. Tatsächlich vergisst man allzu leicht, was man sich selbst und anderen auf Dauer mit leerem Gerede antut.

Wir verabschieden uns mit dem Gruß: Mögen alle Wesen glücklich sein und Frieden finden.


Nach einem Vortrag in NDR Info: Aus der Sendereihe Religionsgemeinschaften - Buddhisten, am Sonntag, 11.07.2021, 7.15 Uhr bis 7.30 Uhr – gelesen von Kornelia Paltins


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