Mensch sein heißt, in Beziehungen zu anderen Menschen stehen - zu Verwandten, Partnern und Freunden, zu Berufskollegen, Gleichgesinnten u. a. Manchen solcher Beziehungen kann man sich entziehen, einer nie ganz: der von Eltern und Kind. Wie sollte deren Idealbeziehung aussehen? Alfred Weil hat dazu Worte des Buddha aus dem Pali-Kanon ausgewählt und kommentiert.
Der Buddha: „Die Empfängnis eines Embryos im Schoß findet statt, wenn drei Dinge zusammenkommen. Wenn die Vereinigung von Vater und Mutter stattfindet, aber die Mutter nicht ihre fruchtbaren Tage hat, und das Wesen, das wiedergeboren werden soll, nicht anwesend ist - in diesem Fall gibt es keine Empfängnis. Wenn die Vereinigung von Vater und Mutter stattfindet und die Mutter ihre fruchtbaren Tage hat, aber das Wesen, das wiedergeboren werden soll, nicht anwesend ist - auch in diesem Fall gibt es keine Empfängnis. Aber wenn die Vereinigung von Vater und Mutter stattfindet und die Mutter ihre fruchtbaren Tage hat und das Wesen, das wiedergeboren werden soll, anwesend ist - in diesem Fall findet eine Empfängnis durch das Zusammenkommen dieser drei Dinge statt."
(Majjhima Nikaya 38 - Übersetzung: Kay Zumwinkel)
Kommentar
Für naturwissenschaftlich orientierte Menschen klingt das irritierend: Kinder werden von ihren Eltern nicht gezeugt, sondern nur „empfangen". Wohl bilden Ei und Samenzelle die materielle Grundlage für den sich bildenden Körper des Kindes. Doch es selbst existiert bereits als „jenseitiges Wesen" und strebt lediglich nach einer erneuten Geburt. Sein Verlangen nach menschlicher Existenz und seine schon erworbenen Charakterzüge bestimmen die Umstände, unter denen sie sich vollzieht. Vater, Mutter und Kind bilden dann für eine begrenzte Zeit eine Art „Schicksalsgemeinschaft", in die sie ihr jeweiliges Karma geführt hat. Eine innere, eine karmische Verwandtschaft von Wesen lässt eine Familie entstehen, nicht in erster Linie ein biologischer Vorgang.
Der Buddha: „Zweien, sage ich, kann man das Gute schwerlich vergelten. Welchen zweien? Vater und Mutter.
Sollte man gar imstande sein, auf einer Schulter seine Mutter zu tragen und auf der anderen Schulter seinen Vater, und dabei hundert Jahre alt werden, hundert Jahre am Leben bleiben; ihnen dabei mit Salben, Kneten, Baden und Gliederreiben aufwarten, und sollten jene dabei sogar ihre Notdurft verrichten - nicht genug hätte man für seine Eltern getan, hätte noch nicht das Gute vergolten.
Und sollte man seinen Eltern selbst die Oberherrschaft über die weite Erde übertragen, der an den sieben Schätzen reichen - nicht genug hätte man für seine Eltern getan, hätte noch nicht das Gute vergolten. Aus welchem Grunde aber? Gar viel tun die Eltern für ihre Kinder: sind ihre Erhalter und Ernährer, zeigen ihnen diese Welt.
Wer aber seine Eltern, wenn sie kein Vertrauen [zum Buddha] haben, zum Vertrauen anspornt, sie darin bestärkt und festigt; wenn sie sittenlos sind, sie zur Sittlichkeit anspornt, sie darin bestärkt und festigt; wenn sie geizig sind, sie zur Freigebigkeit anspornt, sie darin bestärkt und festigt; wenn sie unwissend sind, sie zum Wissenserwerb anspornt, sie darin bestärkt und festigt: der hat wahrlich genug für seine Eltern getan, hat ihnen das Gute vergolten, ja mehr als vergolten."
(Anguttara Nikaya 2,34 - Übersetzung Nyanatiloka/Nyanaponika)
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Noch einmal: Es geht um Mütter und Väter, die ihre Rolle auch tatsächlich erfüllen, die sich uneingeschränkt und aufopfernd um das Wohlergehen ihrer Sprösslinge kümmern. Und das über viele Jahre hinweg und ohne Rücksicht auf die eigenen Interessen. Kein Säugling bekommt mit, wie oft Mutter und Vater in den ersten Lebensmonaten auf Schlaf verzichten, um zur rechten Zeit Hunger zu stillen, Krankheit zu bekämpfen und schlechte Träume zu vertreiben. Die Stunden bleiben ungezählt, in denen gewaschen und gewickelt, beruhigt und getröstet wird. Und später erscheint alles selbstverständlich. Das Taschengeld und die neue Hose, das eigene Handy und der Urlaub, die Hobbys und die Ausbildung. Essen, Schlafen und Taxiservice ohnehin.
Soviel steht fest. Kein Überleben ohne die ältere Generation, selbst wenn sie sich unter Umständen weniger um die Stammhalter kümmert oder kümmern kann. Aber wer ist sich selbst dann dessen wirklich bewusst, was ihm vom ersten Schrei bei der Geburt bis zum Abiturszeugnis und darüber hinaus alles zuteil wurde? Wer empfindet dabei spontan Dankbarkeit und wem ist es ein Bedürfnis, sie zum Ausdruck zu bringen? Die Worte des Buddha sind an dieser Stelle ziemlich nachdrücklich, um das gewöhnliche Missverhältnis zwischen Nehmen und (Zurück-)Geben deutlich zu machen. Dabei liegt die beste Möglichkeit, sich zu revanchieren, jenseits aller materiellen „Wiedergutmachung" oder Unterstützung bei beschwerlichen Alltagsdingen. Sie besteht darin, für seine Eltern in spirituellen Fragen Inspiration und Vorbild zu sein. Sie auf die tieferen Seiten des Lebens aufmerksam zu machen, wenn sie keinen Blick dafür haben. Sie zu ermutigen, einen spirituellen Weg zu gehen, wenn sie es nicht schon tun. Ihnen das bestmögliche Geschenk zu machen, das Geschenk der Lehre.
Der Buddha: „Fünffach ist die Art, wie ein Sohn den Eltern entgegenkommen soll: ‚Erhalten von ihnen, werde ich sie erhalten, ihre Arbeit werde ich verrichten, der häuslichen Überlieferung werde ich treu bleiben, ihr Erbe werde ich antreten, und wenn sie wohl einst dahingegangen, verstorben sind, werde ich die Spenden darbringen.' Ist also auf fünffache Weise der Sohn den Eltern entgegengekommen, so nehmen sie sich auf fünffache Weise des Sohnes an: vor Schlechtem wehren sie ab, zum Guten lenken sie hin, zu einem Beruf erziehen sie ihn, eine geeignete Gattin führen sie ihm zu, beizeiten lassen sie ihm das Erbe zukommen. Ist also auf fünffache Weise der Sohn den Eltern entgegengekommen, so nehmen sie sich also auf fünffache Weise des Sohnes an."
(Digha Nikaya 31 - Übersetzung: Karl Eugen Neumann)
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Solidarität der Generationen nennt man heute, was der Buddha hier anspricht. Die Älteren sorgen in ihren besten Jahren dafür, dass die Jungen ihren Weg ins Leben finden und irgendwann auf eigenen Beinen stehen. So wie es bei ihnen selbst auch war. Aber diese Fürsorge darf keine Einbahnstraße sein. Irgendwann werden die Eltern nämlich selbst wieder wie Kinder - im (fast) wörtlichen oder im übertragenen Sinn. Jetzt sind die Jungen dran. Rollentausch eben. Sie sind es, die nun Verantwortung übernehmen und für diejenigen sorgen, die aus verschiedenen Gründen „nicht mehr können." Einkaufen, weil die Taschen auf der langen Treppe inzwischen zu schwer sind, und Transporte, weil die Beine nicht mehr wollen. Der Kampf mit Behörden, Formularen und technischen Einrichtungen, weil die Welt von heute zu kompliziert und undurchschaubar geworden ist. Hilfe bei Geldangelegenheiten, wo der Überblick verloren gegangen ist und Entscheidungen ohne Rat nicht zu treffen sind.
Aber der Buddha ist kein Sozialpolitiker, sondern ein spiritueller Lehrer. Deshalb kehrt er in seiner Darstellung die Reihenfolge um: erst kümmern sich die Jüngeren um die Älteren, dann die Älteren um die Jüngeren. Das macht natürlich nur dann Sinn, wenn wir nicht allein dieses eine, das jetzige Leben im Auge haben, sondern genauso, was danach kommt. Unser gegenwärtiges Handeln legt den Grundstein für die nähere wie die fernere Zukunft. Wenn wir uns für morgen vollendete Eltern wünschen, müssen wir uns heute an diesem Ideal versuchen und es selbst realisieren.
Der Buddha: „Nicht ist ein Wesen zu finden, das nicht früher einmal Mutter - Vater - Bruder - Schwester - Sohn - Tochter gewesen wäre während dieser langen Zeit.
Warum das? Unbekannten Anfangs ist dieser Umlauf der Geburten; nicht kennt man einen ersten Beginn bei den Wesen, die, in dem Hemmnis des Nichtwissens, in der Fessel des Durstes gefangen, (von Geburt zu Geburt) umherwandern und umherlaufen."
(Samyutta Nikaya 15,14-19 - Übersetzung: Wilhelm Geiger)
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Wir haben keine Ahnung, wie begrenzt unser Blick für die Realität ist. Sicher, über unsere jetzige Familie können wir ein Lied mit vielen Strophen singen. Ein Loblied vielleicht oder ein Trauergesang, je nach dem. Wahrscheinlich mischen sich schrille und harmonische Töne. Aber all das ist nur eine Momentaufnahme gemessen an der anfanglosen Reihe von Erfahrungen, die wir in vorangegangenen Leben in den unterschiedlichsten Rollen gemacht haben. Als Mutter, Vater, Bruder, Schwester, Sohn, Tochter, Mutter, Vater, Bruder, Schwester, Sohn, Tochter... Die Zahl unserer vergangenen Eltern-Kind-Beziehungen ist nicht nennbar und das, was wir seit anfanglosen Zeiten an Schönem erlebt und an Belastendem erlitten haben, nicht in Worte zu fassen. Immer nur Varianten desselben Spieles. Ist das nicht Anlass genug, einmal noch gründlicher über unser Leben und seine Ausrichtung nachzudenken? Wie lange wollen wir eigentlich noch in immer dieselben Rollen schlüpfen und sie mehr oder weniger gut spielen?
Der Buddha: „Mit Sinnesvergnügen als Ursache, Sinnesvergnügen als Quelle, Sinnesvergnügen als Grundlage, weil die Ursache davon schlicht Sinnesvergnügen sind, streiten Könige mit Königen, Adelige mit Adeligen, Brahmanen mit Brahmanen, Haushälter mit Haushältern; die Mutter streitet mit dem Kind, das Kind mit der Mutter, der Vater mit dem Kind, das Kind mit dem Vater; der Bruder mit der Schwester, die Schwester mit dem Bruder, der Freund mit dem Freund."
(Majjhima Nikaya 13 - Übersetzung: Kay Zumwinkel)
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Habenwollen und Seinwollen, Konsumwahn und Markenfetischismus: In Form von gesellschaftlichen Prinzipien ist uns das Thema zweifellos vertraut. Aber immer häufiger prägt das materialistische Denken auch die intimeren Bereiche des menschlichen Zusammenlebens. Auf die eigenen Interessen fixiert sein und sie ohne Rücksicht durchsetzen ist dann die Maxime. Die Blindheit hinsichtlich der Anliegen der anderen nimmt zu, das Gemeinsame, Verbindende bleibt dagegen auf der Strecke. Die sichtbaren Symptome davon? Man ist dauernd unterwegs; jeder hat seine Zeit für die Mahlzeiten; in der Wohnung laufen gleichzeitig drei Fernsehgeräte mit unterschiedlichen Programmen. Kommunikation wird rudimentär. Oder die Spannungen untereinander werden größer und irgendwann unerträglich. Statt Rückzugsort und Kraftzentrum wird die Familie selbst zum Stressfaktor und Kampfplatz.
Der Buddha: „Brahma lebt in denjenigen Familien, in welchen die Eltern zu Hause von den Kindern verehrt werden. Die ersten Lehrer leben in denjenigen Familien, in welchen die Eltern zu Hause von den Kindern verehrt werden...
‚Brahma', das ist eine Bezeichnung für Vater und Mutter; ‘die ersten Lehrer', das ist eine Bezeichnung für Vater und Mutter... Aus welchem Grunde aber? Gar viel tun die Eltern für ihre Kinder. Sie sind ihre Erzeuger, ihre Ernährer, sie zeigen ihnen diese Welt..."
(Anguttara Nikaya 3,31 - Übersetzung: in Anlehnung an Nyanatiloka/Nyanaponika)
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In der indischen Tradition steht die erhabene Gottheit Brahma für die überragenden Herzensqualitäten der nicht messenden Liebe, des universellen Mitempfindens, der grenzenlosen Freude und der unerschütterlichen Gelassenheit. Wenn die Eltern diese Eigenschaften nach ihren Möglichkeiten ebenfalls entwickeln und insoweit darin Vorbild sind, ist das die Grundlage eines harmonischen Zusammenlebens in der Familie. Es hat dann tatsächlich „göttliche" Qualität und bietet die besten Entwicklungsmöglichkeiten für das Kind. Wieweit der normale Alltag von diesem Ideal entfernt ist, wissen wir alle. Welche Eltern haben nicht auch ihre Schwächen und Schattenseiten, sind immer bester Laune und nie aus der Ruhe zu bringen? Und welches Kind empfindet Mutter und Vater als verehrungswürdig? Zumal in der Pubertät, wenn es darum geht, abzunabeln und den eigenen Weg ins Leben zu finden? Aber: je mehr „Brahma" in einer Familie zuhause ist, umso besser.