Zeitschriftenartikel

Frei von Angst und Furcht werden

Alfred Weil

„Da ist er wieder, dieser grimmige Hund, und er kommt direkt auf mich zu. Hoffentlich hält ihn mein Nachbarn auch fest an der Leine. Oder sollte ich doch vielleicht besser auf die andere Straßenseite gehen, damit er nicht wieder nach mir schnappt?“
Freilich kann uns nicht nur ein großer Hund unterwegs Angst einflößen, das können mitunter sogar kleine Tiere zuhause – Spinnen, Wespen und Mäuse. Oder gerade in diesen Zeiten gesundheitsgefährdende Viren, die wir nicht einmal sehen.
Andere Menschen können ebenfalls Ursache für Furcht sein. „Hoffentlich werde ich nicht auch einmal überfallen“, sorgt sich der eine. Der nächste betrachtet mit Beklemmung die wachsende Zahl gesellschaftlicher Konflikte. Zudem ist es uns noch immer nicht gelungen, die Natur so weit zu beherrschen, dass keine Gefahren mehr von ihr ausgehen. Hier verwüstet ein Flächenbrand das Hab und Gut, dort vernichtet ein Erdbeben einen ganzen Landstrich, woanders deckt ein Tornado zahllose Dächer ab oder eine Sturmflut lässt ganze Inseln versinken. Gründe genug also für Furcht und Angst.
Eine neue Erkenntnis ist das nicht. Doch es bedarf immer wieder eines Anstoßes, um in den einzelnen Ereignissen eine generelle Lebenstatsache zu erkennen und die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Oft genügt es uns nämlich, einer akuten Gefahrensituation glücklich entgangen zu sein. Dabei ignorieren wir gerne das Damoklesschwert, das ständig über unseren Köpfen schwebt. Alle Religionen lenken unsere Aufmerksamkeit genau darauf und geben wertvolle Hinweise. Sie wollen auf die große Verletzlichkeit von uns Menschen und die Vergänglichkeit aller weltlichen Erscheinungen aufmerksam machen.

Viererlei Schrecken gibt es, sagt der Buddha. Welche vier? Den Schrecken der Geburt, den Schrecken des Alters, den Schrecken der Krankheit, den Schrecken des Todes. (A 4,119)

Wer ist sich dessen ständig bewusst, dass seine Gesundheit in jedem einzelnen Moment bedroht ist – und damit sein physisches Leben überhaupt? Heute noch völlig wohlauf, mag mich morgen eine schwere Krankheit treffen. Das Älterwerden lässt sich mit keinem Mittel aufhalten. Körperliche und geistige Fähigkeiten schwinden mit den Jahren, die Möglichkeiten des Erlebens und Genießens werden unaufhaltsam geringer. Und schließlich: Selbst wenn ich Hundert Jahre lang lebe oder noch länger, mein physisches Ende ist unabwendbar.
Alle religiösen Lehrer sagen das in diesen oder jenen Worten und sie beschwören uns geradezu: „Verschwendet nicht die Zeit für weltliche Banalitäten, nutzt sie vielmehr, um Höheres und Dauerhafteres zu verwirklichen!“ Mit einiger Offenheit und genügend Sensibilität können wir das wohl nachvollziehen. Doch was meint der Buddha mit dem Schrecken der Geburt? Ist sie auch ein oft schmerzlicher und gefahrvoller Vorgang, so haben wir sie doch hinter uns!? Warum also Angst vor ihr haben?
Buddhistinnen und Buddhisten sind davon überzeugt, dass wir nicht nur eine Geburt erlebt haben, sondern schon ungezählte frühere, und dass wir wahrscheinlich noch viele künftige zu erwarten haben. Sie sprechen vom Daseinskreislauf und der fortgesetzten Wiederkehr von Geborenwerden, Alten und Sterben. Angst vor den Lebenstatsachen und damit vor der Unvollkommenheit des Daseins ist deshalb umso mehr berechtigt, weil wir ihnen immer wieder ausgesetzt sein werden.
„Gründe genug also für Furcht und Angst“, sagte ich vorhin schon einmal. Doch über den Blick auf sachliche und äußere Umstände vergessen wir leicht uns selbst. Tatsächlich sind wir die wichtigste Ursache, ohne es recht zu wissen. Ich denke an unsere ungezählten Bedürfnisse und Wünsche, Anliegen und Sehnsüchte. Ständig wollen und erstreben wir etwas, finden dies oder das schön und begehrenswert, und bei so vielem sagen wir wie selbstverständlich: „Das ist mein.“
Aber eben das ist es, was uns verletzbar macht und den Keim von Angst in sich birgt. Einmal sind wir bange, dass sich unsere Wünsche nicht erfüllen. Sind sie wahr geworden, befürchten wir möglichen Verlust. Die Vergänglichkeit aller Erscheinungen liegt wie ein Schatten auf unserem Gemüt. Wer an Tausend Dingen dieser Welt hängt, hat deshalb tausendfache Sorge. Je stärker sein Verlangen ist, umso dunkler ist dieser Schatten und umso schwerer lastet er. „Ob das Geld wohl reicht, ob mein Partner bei mir bleibt, sich der Klimawandel verschärft, ein internationaler Handelskrieg droht?“
Nicht weniger gefährdet als alles „mein“ ist das, was wir „Ich“ nennen. Wir identifizieren uns mit unserem Körper, mit unseren Gefühlen und Ideen, Plänen und Aktivitäten. Was aber kann und wird von ihnen bleiben? Wir möchten möglichst lange leben und uneingeschränkt glücklich sein. Aber es begleitet uns eine leisere oder lautere innere Mahnung, dass das nicht von Dauer sein wird. So wie ich über alles „Mein“ nicht zuverlässig und dauerhaft verfügen kann, so groß ist die Unsicherheit bezüglich der eigenen Person. Je stärker wir auf unser Ich bauen und von seiner Besonderheit, Einmaligkeit und Wichtigkeit überzeugt sind, umso düsterer sind die Aussichten. Krankheit und Alter lassen die körperlichen und psychischen Fähigkeiten weniger werden; mit dem Tod ist sind Körper und Geist ganz dem Verfall preisgegeben.
Sind sie es wirklich? An dieser Frage scheiden sich heute allerdings die Geister, und die mit dem Gedanken an das Sterben verbundene Angst zeigt daher zwei völlig unterschiedliche Gesichter. Für materialistisch eingestellte Menschen steht das endgültige Finale, das dunkle Nichts, die große Leere bevor. Sie fürchten das Aus aller freudvollen Erlebnisse und liebevollen Begegnungen und sehen eine gähnende und öde Leere vor sich.
Wie schon gesagt, stellt der Buddha etwas anderes in Aussicht: Leben endet nicht mit dem Zerfall des Körpers, es setzt sich unabhängig von grober Leiblichkeit fort. Leben ist nicht zuerst ein biologischer Vorgang, sondern ein seelisch-geistiges Geschehen, das anderen als materiellen Gesetzen unterliegt. Wer davon überzeugt ist, muss insofern kein mulmiges Gefühl bekommen, wenn er an das Sterben denkt. Für ihn bringt es nur eine Wende und kein Ende.
Und dennoch mag auch er Angst bekommen – wenngleich aus einem anderen Grund. Die buddhistische Karmalehre besagt, dass wir Menschen künftig das erleben werden, was wir zuvor mit unserem Tun und Lassen in die Welt geschickt haben. Jeder erntet, was er sät: Helles, wenn Gutes von ihm ausgegangen ist, und Dunkles, wenn Reden und Handeln übel waren.
In den überlieferten Texten findet sich daher die bange Frage. O, was nur wird aus uns nach diesen Tagen? (Suttanipata 774) Sie drückt die Sorge aus, die Chancen im gegenwärtigen Leben nicht genug genutzt und weniger aus sich gemacht zu haben, als möglich und gut gewesen wäre. Oder sogar eine bedrückende Einsicht: „Ich habe mir einiges zu Schulden kommen lassen, das nun auf mir lastet und meine Aussichten verdüstert.“ Es ist die intuitive Gewissheit, dass unheilsames Tun und Lassen eine ebenso unheilsame Zukunft nach sich zieht. –
Sicher können Psychologen, Philosophen und Dichter Angst und Furcht noch detaillierter beschreiben und viele weitere Erscheinungsformen nennen. Doch wird die meisten von uns mehr interessieren, wie wir mit dieser besonderen Form von Leiden umgehen können und welche Hilfen die buddhistischen Lehren anbieten.
Allgemein lässt sich die Antwort leicht formulieren: Wir müssen eben die Bedingungen für Angst und Furcht beseitigen. Doch müssen wir an der richtigen Stelle anpacken. Alle spitzen Steine auf unserem Lebensweg lassen sich nämlich nicht aus dem Weg räumen. Aber wir können Schuhe anziehen, die uns vor möglichen Verletzungen schützen. Die Welt gänzlich umzugestalten und absolut gefahrlos zu machen, wird nicht gelingen, was die Geschichte der Menschheit zur Genüge bewiesen hat. Doch wir können uns persönlich bestmöglich wappnen: mit einer angemessenen Einstellung dem Leben und uns selbst gegenüber.
Je weniger wir etwa unser Ego aufplustern, es wichtig nehmen und in den Mittelpunkt rücken, umso weniger kann diesem Ego passieren. Je weniger wir an unserem Besitz hängen, umso weniger wird sich Sorge um eventuelle Verluste breitmachen. Wenn Verlangen nach diesem und jenem unser Herz nicht mehr so stark beherrscht und Zufriedenheit an seine Stelle tritt, nehmen auch alle Befürchtungen ab, zu kurz zu kommen und etwas zu verpassen.
Vor allem aber bestimmen unsere Haltung und unser Verhalten den Mitwesen gegenüber, ob uns eine eher gefahrvolle oder eher sichere Zukunft erwartet – in diesem Leben wie darüber hinaus. In den Worten des Buddha klingt das so:

Fünf große Gaben gibt es. Da hat jemand das Töten aufgegeben, das Stehlen aufgegeben, er hat sexuelles Fehlverhalten, Lügen und den Genuss von Rauschmitteln aufgegeben. Indem er sich all dessen enthält, gewährt er unnennbar vielen Wesen die Freiheit von Furcht, von Feindseligkeit und Bedrängnis. Und indem er unnennbar vielen Wesen Freiheit von Furcht, von Feindseligkeit und Bedrängnis gewährt, wird ihm selbst unnennbare Freiheit von Furcht, von Feindseligkeit und Bedrängnis zuteil. (A 8,39/gekürzt/gerafft – Übersetzung: A.W.)

Diese schlichten Worte legen mit guten Gründen nahe, fünf ethische Grundregeln zu beachten: niemanden seines Lebens zu berauben, seinen Besitz unangetastet zu lassen, seine sexuelle Integrität zu bewahren, die Wahrheit nicht zu verbiegen und den eigenen Geist nicht mit Alkohol oder Drogen zu trüben. Wenn ich mein Verhalten daran orientiere, hieß es eben, mache ich damit meinen Mitwesen ein überaus wertvolles Geschenk. Ich gewähre ihnen nämlich Freiheit vor Angst und Furcht. Sie werden merken, dass ihnen von meiner Seite keinerlei Gefahr droht und sie völlig beruhigt sein können. Ist schonendes Verhalten ein dauerhafter und verlässlicher Charakterzug geworden, werden ungezählte Wesen profitieren – im jetzigen, wie eben auch in künftigen Leben.
Umgekehrt werde ich ebenfalls zu den Nutznießern gehören: Was an Negativem nicht von mir ausgeht, kann nicht zu mir zurückkehren. Bin ich selbst uneingeschränkt „harm-los“ wird es die Welt mir gegenüber ebenfalls sein. Wer nicht länger Quelle von Angst und Frucht ist, wird sie selbst bald nicht mehr erfahren.

Wir verabschieden uns mit dem Gruß: Mögen alle Wesen glücklich sein und Frieden finden.

Nach einem Vortrag in NDR Info: Aus der Sendereihe Religionsgemeinschaften - Buddhisten, am Sonntag, 10.01.2021, 7.15 Uhr bis 7.30 Uhr – gelesen von Kornelia Paltins


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