Zeitschriftenartikel

König Pasenadi und die Eigenliebe

Alfred Weil

König Pasenadi hat gerade seine Regierungsgeschäfte für eine Weile unterbrochen. Mit seiner Frau Mallika ist er auf die Terrasse des Palastes hinausgegangen, um ein wenig Luft zu holen. Jetzt ist Zeit, über einiges nachzudenken, das ihn immer wieder einmal beschäftigt – trotz oder gerade wegen seiner vielfältigen Verpflichtungen. Es sind auch die anderen Seiten des Lebens, jenseits der eher vordergründigen, aber doch ständig fordernden Alltagsaufgaben, die ihn berühren. Da ist es ihm gerade recht, dass seine Frau in der Nähe ist. Sie wollte er schon seit einiger Zeit etwas fragen.
„Mallika, wie ist das eigentlich bei dir. Gibt es für dich etwas, das dir lieber wäre als das eigene Ich?“ Vielleicht hat er insgeheim gehofft, sie würde entgegnen: „Natürlich, mein Lieber. Du bist mir lieber als alles andere auf der Welt.“ Aber die Antwort seiner Frau fällt anders aus. Mit großer Offenheit gesteht sie „Für mich gibt es nichts, das mir lieber wäre als das eigene Ich, großer König.“ Und er, zunächst etwas überrascht, muss nach einigem Nachdenken ebenfalls bekennen: „Auch für mich gibt es nichts, das mir lieber wäre als das eigene Selbst.“
Aber irgendwie lässt ihm das kurze Gespräch keine Ruhe, auch wenn es einvernehmlich war. Spielt Eigenliebe tatsächlich eine so große Rolle, grübelt er? Ist sie so verbreitet? Da er sich selbst keinen Rat weiß, verlässt er schnell den Palast und geht in das nahegelegene Kloster. Er will den Buddha aufsuchen, der für Klarheit sorgen soll. Dort angekommen, berichtet er, was gerade vorgefallen ist. Der Erwachte antwortet ihm in einem kurzen Vers:

Wer im Gemüt die ganze Welt durchwandert –,
er findet nichts, was er mehr als sein Selbst liebt.
Genauso lieben alle auch ihr Selbst.
Verletz’ drum keinen – du liebst auch dein Selbst.

Ja, sagt der Buddha, beide habt ihr dieselbe richtige Beobachtung gemacht. Überall sind die Menschen so geartet. Und das hat seinen Grund. Jeder erlebt spontan sich selbst am unmittelbarsten. Sein deutliches Empfinden „Ich in der Welt“ lässt sich nicht leugnen. Die eigenen Erfahrungen und Gefühle sind zunächst jedem am allernächsten. Die selbst gespürte Freude über ein schönes Ereignis ist lebendiger als die Mitfreude, wenn einem Freund etwas Angenehmes widerfährt. Der Hunger in meinem Magen verlangt im ersten Augenblick gebieterischer nach Sättigung als der Hunger, über den ich in der Zeitung lese. Was unsere Mitmenschen fühlen und denken, können wir uns mehr oder weniger gut vorstellen, aber eben doch nicht selbst erleben. Unsere eigenen Wünsche und Sehnsüchte sprechen lauter zu uns als die Anliegen und Hoffnungen von Familienangehörigen, Nachbarn oder anderen Nahestehenden. Von Fremden oder Unbekannten gar nicht zu reden. Entsprechend dieser unmittelbaren Eigenliebe denken, reden und handeln wir – wenn sich nicht noch eine andere Stimme in uns meldet.

Sollten die Worte des Buddha bedeuten, dass er dem Egoismus das Wort redet? Sollte er allen Ernstes empfehlen, nur eigene Interessen im Auge zu haben und nur persönliche Ziele zu verfolgen? Ist die Eigenliebe wirklich Maß aller Dinge? Diese Schlussfolgerung wäre sicher falsch, denn gesagt wurde nämlich etwas anderes.
Vergegenwärtigen wir uns die zweifache Bedeutung des Wortes Liebe. Wir benutzen es wie selbstverständlich auch im Sinne des egobezogenen Haben- und Genießen-Wollens. Menschen lieben gutes Essen, sie lieben Musik und Malerei, schnelle Autos und Sport, Reisen, Erotik und Geld. Sie lieben die sinnlichen Freuden des Lebens. Und so weit sie eben darauf aus sind und sich diesen Dingen hingeben, ist ihnen ihr Ich wichtig, das ja das Schöne der Welt genießen will und kann. Je zahlreicher und stärker solche weltlichen Anliegen sind, umso mehr wächst das Ego und regiert der Eigenwille.

Als Realist leugnet der Buddha Selbstliebe nicht und macht sie niemandem zum Vorwurf, aber er bleibt nicht bei ihr stehen. Er knüpft eine wichtige Empfehlung an sie, wenn er König Pasenadi klarzumachen versucht: „Weil es sich so verhält, wie du bemerkt hast, ziehe die richtigen Schlussfolgerungen daraus. Bedenke diese Tatsache, wenn immer andere von deinen Wünschen, deinem Tun und Lassen betroffen sind. Frage dich, ob du stets Rücksicht darauf nimmst, dass eben jeder für sich Glück und Zufriedenheit sucht. Da du dein Selbst liebst und es andere auf ihre Weise genauso tun, kannst du nicht bedenkenlos deine Pläne verfolgen und deinem Verlangen nachgehen. So gut es immer geht, solltest Du keinem zu nahetreten. Um deine Ziele zu erreichen, solltest du unter keinen Umständen jemanden töten, verletzen oder sonst wie schädigen. Eigne dir niemals etwas unrechtmäßig an, führe niemanden durch Lügen in die Irre und dringe nicht in bestehende Partnerschaften ein. In einem Satz: Um deines persönlichen Wohles willen beeinträchtige nicht das Wohl deiner Mitwesen.“ Damit ist die Eigenliebe schon eines großen Teiles ihrer Macht beraubt. Der Buddha spricht indessen keine Gebote oder Verbote aus. Er baut auf die Einsicht der Menschen, die sich auch ohne erhobenen Zeigefinder oder Drohen angemessen verhalten, wenn sie das Vorteilhafte darin sehen.
Aber auch bei bester Einsicht stellt sich rücksichtsvolles und wohlwollendes Handeln nicht von allein ein. Es will wie vieles andere erlernt sein. Das bessere Wissen geht voran und stellt die richtigen Weichen. Aber dann bedarf es meist noch einiger Übung, den Blick nicht wie von selbst auf sein Ich und seine Wünsche zu richten, sondern sich zu vergegenwärtigen: „Da ist ja noch einer, der wie ich empfindet. Da ist ja noch eine, die wie ich das Angenehme ersehnt und das Unangenehme scheut.“ Wer sich diesen universellen Gleichklang des menschlichen Strebens immer wieder anschaulich macht, verbindet sich mit allen Menschen. Er nimmt sich zum Beispiel und erfasst intuitiv, was in dem anderen vorgeht. Er gewinnt einen sicheren Maßstab für Richtig und Falsch im Alltagshandeln, ohne studierter Experte für Ethik zu sein.
Für eine solche innere Neuausrichtung können von dem Buddha empfohlene Betrachtungen wie die folgende sehr hilfreich sein:

Ich möchte am Leben bleiben und nicht sterben, ich suche Wohl und meide Schmerz. Wenn mich nun jemand … des Lebens berauben würde, so wäre mir das (höchst) unerwünscht und unangenehm. Und wenn ich nun einen anderen, der ebenfalls am Leben bleiben und nicht sterben möchte … des Lebens berauben würde, dann wäre das jenem (höchst) unerwünscht und unangenehm. (…) Wenn mir eine Sache unerwünscht und unangenehm ist, wie könnte ich sie dann einem anderen aufbürden. – Wer sich das eindringlich vor Augen führt, lässt selbst vom Töten ab, bringt andere dazu, ebenfalls das Töten aufzugeben...

Töten von Lebewesen ist ein gewaltsames Extrem, das eigene Ich über das der Mitwesen zu stellen. Töten muss unter allen Umständen tabu sein. Aber das Gleiche gilt auch für andere Formen von sozialem Fehlverhalten.
Wer möchte nicht die erfreulichen Dinge, die er besitzt, behalten und genießen? Wen wird es nicht treffen, wenn ihm etwas gestohlen wird? Wenn ich mich daran erinnere, kann ich mir nichts mehr unrechtmäßig aneignen. Genauso wenig kann ich eine sexuelle Beziehung mit jemandem eingehen, der oder die in festen Händen ist. Ich habe nämlich selbst entschieden etwas dagegen, wenn ein Dritter meine Partnerschaft in Gefahr bringt oder zerstört. Ich möchte auch nicht belogen, hintergangen, hart angefahren oder ständig mit oberflächlichem Gerede belästig werden. Warum sollte das nur bei mir so sein?
Bei wachem Verstand werde ich also meine Mitmenschen bestmöglich vor dem bewahren, was ich selbst nicht erleben möchte. Alle lieben auch ihr Selbst, verletz’ drum keinen, hieß es, und diese Anregung leuchtet uns jetzt besser ein: Nimm die Eigenliebe zum Ausgangspunkt für mehr Rücksicht auf andere. Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem anderen zu. In vielen Ländern und Sprachen ist dieser Gedanke geradezu sprichwörtlich geworden. Und damit die Eigenliebe eben nicht mehr das Maß aller Dinge. Ihr sind feste Grenzen gesetzt.
Und doch mag es uns noch zu wenig vorkommen, lediglich das Unangebrachte und Ungute zu lassen. Hat denn der Buddha nicht mehr zu raten? Das hat er sehr wohl. In dem Gespräch mit König Pasenadi ging es ihm um ein moralisches Mindestmaß, das zu beachten jedem zumutbar ist und niemanden überfordert. Und das kann die Grundlage für eine andere, weitherzigere und vornehmere Haltung sein, für den Wunsch: Mögen alle Wesen glücklich sein! In diesen wenigen Worten drückt sich ein weitaus höheres buddhistisches Ideal aus. Der Buddha nennt es Metta – universelles Wohlwollen. Eigenliebe schaut auf das Wohl einer Person, Metta auf das Wohl aller. Sie sieht unmittelbar, dass ausnahmslos jedes Wesen Schmerz meidet und Glück sucht, und Metta ist der aufrichtige Wunsch, dass alle Wesen Glück und Frieden auch finden. Ein viel zitiertes Wort des Erwachten drückt das so aus:

Alles, was da atmet, was da lebt, ob Bewegte oder Unbewegte – ausnahmslos,
gleich ob lang, ob von gewalt’gem Wuchs, mittel, klein, zart-winzig oder stark gebaut,
die da sichtbar oder unsichtbar, in der Ferne weilen oder nahe sind,
die Gebor’nen und die Keimenden – mögen alle Wesen in sich glücklich sein!

Hier ist das eigensüchtige Ich ganz von seinem Thron gestiegen und nicht länger der Dreh- und Angelpunkt des Lebens. Den Ton gibt jetzt Metta an. In ihrer Vollendung die Liebe, die nichts für sich will und nichts für sich braucht; die gibt, ohne zu nehmen oder etwas zu erwarten. Ihrem Wesen nach ist sie grenzenlos und schließt niemanden aus. Auch die Tiere nicht. Sie ist der Ausdruck vollkommener Ich-Du-Gleichheit, der das persönliche Ergehen nicht wichtiger ist als das aller anderen. Metta bedeutet indessen nicht, alle Menschen sympathisch zu finden, sie gleichermaßen zu mögen und alle gerne um sich zu haben. Aber sie zielt darauf, auch denen uneingeschränkt Gutes zu wünschen, die uns weniger geneigt oder sogar feindselig gesonnen sind. Wir vergeben uns nichts damit, wir gewinnen in jedem Fall. Wer uneingeschränktes Wohlwollen in sich entfaltet, legt zugleich ein festes Fundament für Harmonie und helle Freude in seinem Inneren.


Nach einem Vortrag in NDR Info: Aus der Sendereihe Religionsgemeinschaften - Buddhisten, am Sonntag, 26.06.2022, 7.15 Uhr bis 7.30 Uhr – gelesen von Kornelia Paltins


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