Der Buddha bezeichnet seine eigene Lehre als „gegen den Strom gehend". Tatsächlich stellt sie die abendländische Sichtweise in vielen Punkten grundsätzlich in Frage.
Ein Zentralbegriff in der Lehre des Buddha ist dukkha (Pali), das „Leiden", um dessen Verständnis und Überwindung es ihr ausschließlich geht. Dukkha wird in vierfacher Weise thematisiert. Zunächst wird es als durchgängiges Merkmal jeder Lebenswirklichkeit konstatiert. Alle Daseinserscheinungen sind leidvoll (schmerzlich, unvollkommen, unbefriedigend etc.). Sodann werden Bedingtheit und Ursachen des Leidens analysiert und „Begehren" (Haben- und Sein-Wollen, Zuneigung, Anhaftung, Gier etc.) und „Unwissenheit" (Illusion, Irrtum, Verblendung) genannt. Die Möglichkeit der Aufhebung von dukkha ist Gegenstand der dritten buddhistischen Grundwahrheit, die von der Überwindung von „Verlangen" und „Nichtwissen" handelt. Schließlich erläutert der Buddha die praktischen Vorgehensweisen, die das Ziel der Leidlosigkeit (Pali: nibbana; Sanskrit: nirvana) erreichen lassen. Wissen, Ethisches Handeln und Meditation sind die drei Bereiche dieser Praxis.
Die Leidensproblematik als Tatsache ist gleichermaßen Thema im Buddhismus wie in den theistischen Religionen. Doch zeigt sich eine signifikante Differenz u.a. in der Antwort auf die Frage nach der Herkunft des Leidens und von Welt, Mensch, Natur usw. überhaupt. Gott gilt nicht als Schöpfer des Kosmos, vielmehr werden die genannten (unpersönlichen) Kräfte und Faktoren (karmisches Wirken) als für alle Daseinsphänomene ursächlich ausgemacht. Das bedeutet zugleich, dass Gott weder direkt noch indirekt als Verursacher von dukkha in Frage kommt, und dementsprechend kann der im Christentum so deutlich empfundene Widerspruch zwischen Gottes Allmacht sowie seiner Allgüte und der Existenz von Leiden im Buddhismus nicht aufkommen. Der Buddhismus kennt die Leidensthematik, aber kein Theodizee-Problem.
In der Diskussion des Theodizee-Problems ist es aus seiner Sicht deshalb kaum lohnend, mögliche Widersprüche in der argumentativen Bewältigung der Thematik zu diskutieren oder eine schlüssigere, überzeugendere oder gar unwiderlegbare Lösung zu suchen. Vielmehr geht es aus buddhistischer Sicht darum, das Wesen und die Bedingtheit des Problems selbst zu untersuchen. Das Theodizee-Problem findet keine Entsprechung in den realen Gegebenheiten. Das Dilemma entsteht vielmehr durch die (zweifelhaften) Prämissen, die seiner Formulierung und Behandlung vorausgehen.
Von den in Armin Kreiners Text ausgesprochenen oder seiner Position zugrundeliegenden Prämissen sollen nur zwei zentrale angesprochen werden. Zunächst der Dreh- und Angelpunkt jeder theistischen Religion: Gott. Seine Existenz und seine wesentlichen Merkmale, vor allem die der Allmacht und der Allgüte, stehen für den Autor außer Frage. Christliche Religiosität steht und fällt mit ihnen. Ein Gott, der nicht allmächtig ist, ist kein (wirklicher) Gott, und ein Gott, der nicht allgütig ist, verdient nicht der Verehrung und der Anbetung.
Im ersten Teil seiner Darlegungen reflektiert Kreiner selbst die Prämissen des Theodizee-Problems, insbesondere die genannten Aspekte Allmacht und Allgüte. Beide werden am Ende als Eigenschaften Gottes bejaht, aber nicht im Sinne einer Tatsachenerkenntnis. Sie werden vielmehr aus der gegebenen „Logik des religiösen Vollzugs"abgeleitet.
Aus buddhistischer Sicht noch wichtiger ist der Umstand, dass Eigenschaften Gottes diskutiert werden, nicht aber die Existenz Gottes (als Schöpfer) selbst. Der Buddhismus bestreitet keineswegs „göttliche" Lebensformen, und er stellt mitnichten die Existenz von Wesen in Frage, die intelligenter, fähiger, gütiger, mitfühlender, langlebiger, genussfähiger usw. sind als Menschen. Aber er stellt sie nicht der Schöpfung gegenüber, sondern betrachtet sie als einen Teil von ihr. Auch die höchsten sind nicht Ausgangspunkt und Ursache der Schöpfung, sondern selbst ihr Produkt. Sie sind nicht über die Welt erhaben, sondern gleichermaßen den Daseinsgesetzen unterworfen. Insbesondere gelten „Gottheiten" nicht als allmächtig oder allwissend, und sie sind mitnichten dem Leiden enthoben.
Entsprechend anders fällt die buddhistische Erklärung der Herkunft der Welt aus. Alle materiellen und geistigen Erscheinungen sind Ergebnis karmischen Wirkens und nicht des Schöpfungsaktes eines (personal gedachten) Gottes. Die Wandlungsprozesse der Welt sind im Ganzen keineswegs auf ein letztes Ziel gerichtet, ihnen liegen vielmehr zyklische Prozesse zu Grunde.
Einer solchen Sicht der Realität ist das Theodizee-Problem fremd. Sie kennt den formulierten Widerspruch zwischen erwarteten und erfahrenen Eigenschaften Gottes nicht, ja ein Gott im Sinne der bekannten und traditionellen theistischen Vorstellungen gibt es im Dharma (Lehre) nicht.
Dem skizzierten Gottesbild Kreiners entspricht seine Auffassung vom Menschen und dem Menschsein. Ihnen wird ebenfalls a priori eine überragende Bedeutung zugemessen. Wieder kommt der Buddhismus zu einer anderen Gesamteinschätzung. Zweifellos besitzt der Mensch beachtliche Besonderheiten und Begabungen, die ihn von anderen Lebewesen unterscheiden. Er besitzt mit seiner Erkenntnis- und Unterscheidungsfähigkeit das Potential zu höchster Einsicht und damit zur endgültigen Befreiung vom Leiden. Andererseits kennzeichnet ihn eine unübersehbare faktische Beschränktheit (z.B. seine anfällige körperliche Konstitution, begrenzte Glücksfähigkeit, bescheidene intellektuelle und emotionale Fähigkeiten, kurze Lebensdauer).
Menschliches Leben ist ein hohes Gut, hat aber im Buddhismus nicht von vornherein einen absoluten (Eigen-) Wert. Trotz der zugestandenen herausragenden Möglichkeiten menschlicher Existenz ist sie selbst nur Durchgangsstadium in einem Daseinskreislauf, der die Wesen durch alle beglückenden Höhen und schmerzhaften Tiefen führt. Mehr noch: Der Buddha gesteht weder dem Menschen noch irgendeinem anderen lebenden Wesen (einschließlich „göttlichen") einen dauerhaften, substanziellen Kern zu (anatta-Lehre). Vielmehr sind die Erscheinungen der belebten wie der unbelebten Natur ausnahmslos veränderlich und wandelbar und damit im tiefsten Sinn heil-los. In und mit ihnen lassen sich kein wirklicher Halt, keine wahre Erfüllung, kein vollkommenes Glück finden.
Diese Tatsache verschärft das Problem des Leidens aus buddhistischer Sicht dramatisch, weil seine Überwindung auf der Ebene der Geschöpflichkeit ausgeschlossen ist. Keine noch so hoch entwickelte Form des Lebens ist leidfrei und damit (letztlich) erstrebenswert. Das menschliche Leben, ja Leben als solches, Bewusstsein, Empfindungsfähigkeit usw. sind lediglich bedingte, unbeständige und unvollkommene Phänomene. Hinsichtlich des Theodizee-Problems heißt das, dass die Leidensproblematik viel umfassender und weitreichender ist, als sie sich in den von Kreiner geschilderten Beziehungen zwischen Gott und Mensch darstellt. Umgekehrt lässt sich aus buddhistischer Sicht eine (realistische) Heilserwartung auch nicht auf Gott (im konventionellen Sinn) richten.
Andere diskussionswürdige und aus buddhistischer Perspektive unzutreffende Prämissen wie etwa die Existenz einer „realen" Welt oder die menschliche Willensfreiheit können hier nur genannt werden. Ihre nähere Untersuchung würde ebenfalls zu dem Kern der buddhistischen Kritik an der Position Kreiners führen: dass es bei ihm weniger um Aussagen über Fakten und deren Bestätigung oder Widerlegung geht als um die Auseinandersetzung mit Urteilen und deren Plausibilität. Bezüglich der Existenz Gottes z.B. wird nicht nach ihrer Tatsächlichkeit gefragt, sie wird vielmehr einfach gesetzt, indem dem religiösen Vollzug (Dank, Verehrung, Lobpreis, Sittlichkeit) ein selbstverständlicher (und außerordentlicher) Wert zugesprochen wird. Das menschliche Leben, Willensfreiheit, Empfindungsfähigkeit und Bewusstsein sowie sittliche Leistungen haben in einer unhinterfragten und stillschweigend vorausgesetzten Wertehierarchie einen vergleichbar hohen Rang.
Alles in allem geht es dem Autor nicht in erster Linie darum zu sehen, was ist, sondern er unterstellt, dass etwas Bestimmtes ist Und sein soll). Die Vorstellung, dass die Realität anders sein könnte, wird per se ausgeschlossen und - im konkreten Zusammenhang - das Theodizee-Problem in Kauf genommen, ja geradezu geschaffen. Das Theodizee-Problem gründet letztlich auf (gedanklichen) Setzungen und Willensakten und nicht auf der unvoreingenommenen Prüfung der Realität, wie sie der buddhistische Ansatz fordert.
Damit stellt sich andererseits zwangsläufig die Frage nach der Rationalität der buddhistischen Lehren beziehungsweise nach der Möglichkeit, das angedeutete buddhistische Wirklichkeitsverständnis seinerseits zu belegen. Oder handelt es sich bei ihren kontrovers lautenden Positionen nur um (andere) Glaubensstandpunkte?
Zunächst ist festzustellen, dass für viele Aussagen in den buddhistischen Lehren (Fortexistenz, Wiedergeburt, Karma-Gesetz, Nichtexistenz eines Schöpfergottes etc.) kein unmittelbarer Beweis erbracht werden kann. Die allermeisten BuddhistInnen akzeptieren diese und andere Aussagen im Vertrauen auf die spirituelle Größe des Buddha.
Das bedeutet indessen nicht, dass sich der Buddhismus damit von der Rationalität verabschiedet. Im Gegenteil, rationales Denken ist für ihn ein unverzichtbares Instrument. So kommt es zunächst darauf an, mit den Mitteln des Verstandes Seins-Aussagen auf ihre innere Widerspruchsfreiheit zu überprüfen und zugleich zu untersuchen, ob und wie sie sich mit empirischen Erfahrungen in Übereinstimmung bringen lassen. Dies ermöglicht eine erste und wichtige Abschätzung der Plausibilität spiritueller Wahrheiten. Die buddhistischen Lehren nehmen nun für sich in Anspruch, in sich widerspruchsfrei zu sein, mit rationalem Denken in Übereinstimmung zu stehen und mit Erfahrungstatsachen nicht zu kollidieren. Der Buddha behauptete von sich, nichts zu lehren, was er nicht selbst vollkommen, klar und unzweifelhaft als Realität erfahren hat. Die erkannte Wirklichkeit ist (für ihn) letzter Maßstab, nicht Schlussfolgerungen, Spekulationen oder (Wert-) Urteile.
Indessen reicht es nicht, sich allein der Möglichkeiten der Ratio zu bedienen. Man muss deren Grenzen sehen und schließlich über sie hinausgehen. Die tiefste Dimension der Wirklichkeit - und zu ihr gehören die Themen unseres Diskussionszusammenhanges - lässt sich nicht erdenken, wohl aber erleben. Dazu ist prinzipiell jeder fähig. Diese Wirklichkeit kann aber erst erfahren werden, wenn die entsprechenden Bedingungen gegeben sind. Zu dieser unmittelbaren Schau der Gegebenheit ist der ungeübte, in Denkmustern der Zu- und Abneigung verfangene und auf bestimmte Weltbilder fixierte (menschliche) Geist nicht in der Lage. Buddhistische Spiritualität als Zusammenwirken von (intellektuellem) Wissen, Ethik und (meditativer) Geistesschulung bietet aber einen Weg an, um diese Beschränkungen zu überwinden.
Um dem Theodizee-Problem auf den Grund zu gehen, bedarf es also aus buddhistischer Sicht letztlich nicht so sehr der richtigen „Information" oder „Reflexion", sondern der „Transformation" der Persönlichkeit, die fähig werden muss, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Auf der intellektuellen Ebene allein bleibt das Theodizee-Problem eine offene Frage.
Kommentar/Kritik zu Armin Kreiner: Das Theodizee-Problem und Formen seiner argumentativen Bewältigung (Zeitschrift „Ethik und Sozialwissenschaften")